Ausgerottet vom modernen Menschen?
Neandertaler hielten zusammen, pflegten die Kranken und teilten ihre Beute untereinander auf. Außerdem waren sie kräftig und klug, kannten die sichersten Schlupfwinkel und die ertragreichsten Jagdregionen. Dennoch gibt es heute unter uns 7,5 Milliarden Menschen keinen einzigen Neandertaler mehr.
Der Neandertaler stammte von der Menschenform "Homo erectus" ab – genau wie der moderne Mensch Homo sapiens. Homo sapiens erreichte vor rund 40.000 Jahren Europa, und schon 10.000 Jahre später war der Neandertaler für immer verschwunden.
Die Vermutung, dass unsere Vorfahren daran nicht ganz unschuldig sind, liegt nahe. Hat der moderne Mensch seinen entfernten Vetter bekämpft, vertrieben und schließlich ausgerottet?
Die Theorie vom ersten Völkermord der Geschichte entstand, nachdem Forscher 1899 bei Krapina in Kroatien 800 Knochenteile fanden. Das führte zu Spekulationen: Neandertaler und modernen Menschen hätten sich jahrtausendelang bekriegt und schließlich eine letzte blutige Schlacht ausgefochten.
Zumindest für Krapina ist dieses gewaltsame Szenario aber widerlegt: Die Überreste stammen von Neandertalern, die vor etwa 130.000 Jahren lebten – also lange bevor der Homo sapiens nach Europa kam. Andere Hinweise auf kriegerische Auseinandersetzungen gibt es bisher nicht.
Viele Forscher bezweifelte lange Zeit, ob sich Neandertaler und moderner Mensch überhaupt einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber standen. Schließlich gab es Schätzungen zufolge nur rund 250.000 Neandertaler im eisfreien Europa, als ihre schlanken Homo-Sapiens-Verwandten zu ihnen stießen. Allzu häufig dürften sich die umherziehenden Sippen daher nicht um Jagdgebiete und Höhlen gestritten haben, mutmaßte der Großteil der Forscher.
Im Jahr 2010 präsentierte ein Leipziger Forscherteam um den Genetiker Svante Pääbo jedoch Erstaunliches: Nach Entschlüsselung des Neandertaler-Erbgutes stellten die Wissenschaftler fest, dass ein bis vier Prozent unserer DNA vom Neandertaler stammen. Neandertaler und moderner Mensch müssen sich also miteinander vermischt haben, als sie zur selben Zeit in Europa und im Nahen Osten lebten.
Für Wissenschaftler wie etwa Astrid Slizewski aus dem Neandertal-Museum in Mettmann sprechen diese neuen Erkenntnisse gegen die Theorie, dass der moderne Mensch den Neandertaler ausgerottet hat.
Mangelnde Abwehrkräfte?
Mit dem Entdecker James Cook und seiner Mannschaft landeten 1779 auch Masern, Pocken, Lepra, Syphilis und andere tödliche Krankheiten auf Hawaii. Für einen großen Teil der Ureinwohner bedeutete das den sicheren Tod.
Und Hawaii war kein Einzelfall. Immer wieder wurden in der Kolonialgeschichte ganze Völker getötet oder stark dezimiert, weil sie keine Abwehrkräfte gegen die ihnen unbekannten Erreger besaßen.
War es womöglich bei den Neandertalern ähnlich? Schleppte der Homo sapiens vielleicht neue Bakterien und Viren nach Europa ein und rottete seinen entfernten Verwandten damit langsam aus?
Denkbar ist dies, doch beweisen lässt sich die Theorie bislang nicht. Da die Knochenfunde darauf hindeuten, dass sich Neandertaler und Homo sapiens mindestens 10.000 Jahre lang einen Lebensraum teilten, ist die Annahme eher unwahrscheinlich.
Mangelnde Fortpflanzung?
Der Felsüberhang in La Ferrassie nahe der heutigen Stadt Le Bugue war ein Ort der Trauer. Acht Neandertaler wurden dort vor rund 50.000 Jahren bestattet, darunter fünf Kinder. Einige Wissenschaftler sehen in dem Friedhof von La Ferrassie einen Hinweis auf das sogenannte sanfte Aussterben des Neandertalers: eine hohe Kindersterblichkeit gepaart mit einer insgesamt niedrigen Lebenserwartung.
Das raue Klima der Eiszeit vor rund 30.000 Jahren könnte die Überlebenschancen der Kinder noch verringert haben. Außerdem erschwerte die Kälte wohl die Fortpflanzung: Um Nachkommen zu zeugen, war es wichtig, andere Clans zu treffen, denn die Fortpflanzung innerhalb einer Gruppe hatte natürliche Grenzen. Bei insgesamt nur rund 250.000 Neandertalern in Europa, die ständig ihren Aufenthaltsort wechselten, dürfte es schwierig gewesen sein, einen Partner zu finden.
In diesem Zusammenhang wird häufig auch die Studie des Amerikaners Ezra Zubrow zitiert. Er rechnete 1989 vor, wie der Neandertaler innerhalb von 1000 Jahren verschwunden sein könnte: Dazu müsste seine Sterblichkeitsrate nur um zwei Prozent höher gewesen sein als die des Homo sapiens.
Warum die Einwanderer mehr Glück gehabt haben sollen, beantwortet das Rechenmodell jedoch nicht. Ein Grund könnten die Essgewohnheiten des Neandertalers gewesen sein – und sein hoher Bedarf an Kalorien.
Verhängnisvolle Essgewohnheiten?
Ein Fan vegetarischer Kost war der Neandertaler nicht: Beeren, Wurzeln und Nüsse begeisterten ihn kaum, die aß er nur im Notfall. Seine Nahrung bestand zu 90 Prozent aus Fleisch. Doch die Rentiere, Bären und Ziegen verspeiste er nicht nur, weil sie ihm besser schmeckten, sondern auch, weil ihr Fleisch energiereicher war als vegetarische Kost.
Muskelkraft und Stämmigkeit forderten ihren Preis. 4500 bis 5000 Kalorien musste ein ausgewachsener männlicher Neandertaler nach Berechnungen des amerikanischen Wissenschaftlers Steven Churchill täglich zu sich nehmen. Zwei Kilo Rentierfleisch Tag für Tag – nur so war er den Strapazen in der klirrenden Kälte gewachsen.
Damit benötigte er etwa ein Drittel mehr Kalorien als ein heute lebender Inuit-Mann. Den Kalorienbedarf eines modernen Büromenschen verbrauchte er alleine, um zu atmen und nicht zu erfrieren.
Wenn das Angebot an Nahrung im tiefen Winter knapp wurde, könnte er seine Leistung auf diesen Energiesparmodus reduziert und eine Art Winterschlaf gemacht haben. An Fortpflanzung wäre in dieser Zeit natürlich nicht zu denken gewesen.
Der grazilere Homo sapiens muss also nicht erfolgreicher gejagt oder den Neandertaler hinterhältig ausgerottet haben. Seine Anatomie und ein flexiblerer Speiseplan wurden für ihn in Zeiten knapper Nahrung zum vielleicht entscheidenden Vorteil.
Ausgestorben nach einem Vulkanausbruch?
Vor 40.000 Jahren standen die Neandertaler unter großem Druck. Die Konkurrenz zum aufstrebenden Homo sapiens, Klimaschwankungen und Hungersnöte machten ihnen zu schaffen. Genetische Analysen gehen davon aus, dass die Population der Neandertaler zu diesem Zeitpunkt nur etwa 10.000 Individuen umfasste. Jede Störung von außen kann auf so eine kleine Population große Auswirkungen haben.
Genau zu diesem Zeitpunkt ereignete sich eine gewaltige Naturkatastrophe: der Ausbruch eines Supervulkans auf den phlegräischen Feldern nahe Neapel. Die direkten Folgen der Eruption machten dem Neandertaler nicht viel aus, da er in unmittelbarer Umgebung des Vulkans überhaupt nicht siedelte. Allerdings zogen mächtige Aschewolken weit über Europa – über den Balkan und Osteuropa bis hin nach Russland.
Geomorphologen der Universität Bayreuth haben bei landschaftsgeschichtlichen Untersuchungen in Rumänien bis zu ein Meter dicke Ascheablagerungen gefunden. Geochemische und gesteinsmagnetische Analysen haben ergeben, dass die Asche aus der Eruption von den phlegräischen Feldern stammt.
Die Folgen für alle Lebewesen müssen verheerend gewesen sein. Der Ascheregen veränderte nicht nur die Landschaft, er läutete auch eine starke Abkühlung des Klimas ein. Die Temperaturen sanken für einige Jahre um zwei bis vier Grad Celsius – ein sogenannter vulkanischer Winter setzte ein. Zudem führte der Ascheregen giftige Stoffe wie Schwefel, Fluor und Chlor mit sich, die wahrscheinlich viele Pflanzenfresser vergifteten.
Viele Forscher vermuten daher, dass die ohnehin geschwächte Population der Neandertaler sich diesen radikalen Umweltveränderungen nicht mehr stellen konnte. Vielleicht war der Homo sapiens anpassungsfähiger und hat daher den Konkurrenzkampf um die wenig verbliebenen Ressourcen für sich entschieden.
Lebt der Neandertaler in uns weiter?
Neandertaler gibt es schon lange nicht mehr. Aber sind sie wirklich ausgestorben? Schließlich zeigte die Entschlüsselung des Neandertaler-Erbgutes im Jahr 2010, dass ein bis vier Prozent unseres Erbguts vom Neandertaler stammen.
Neandertaler und moderner Mensch hatten also tatsächlich Sex. Und einen kleinen Teil Neandertaler tragen Europäer heute noch in sich. Diese Erkenntnis gewannnen die Forscher mithilfe dreier gut 38.000 Jahre alter Knochenstücke, die sich für die Erbgut-Analyse noch eigneten.
(Erstveröffentlichung 2006. Letzte Aktualisierung 17.07.2019)