Schauplätze der Industrialisierung
Angefangen hatte es ganz klein: Die ersten Bahnhofsgebäude waren oft nur unscheinbare Unterstände am Rande der Trasse – schließlich war der Bau der Strecke bereits kostspielig genug gewesen.
Doch bald wurden die Pioniere der Eisenbahn von ihrem Erfolg überrollt: Nach der Inbetriebnahme der ersten Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth im Jahr 1835 wurde das neue Verkehrsmittel binnen kürzester Zeit zum bewunderten Schrittmacher der Industrialisierung. Distanzen schrumpften, Gütertransporte beschleunigten sich, auch die Menschen wurden mobiler.
Der Bahnhof war gewissermaßen der Kristallisationspunkt dieser neuen Entwicklungen. Hier wurden die transportierten Güter umgeschlagen, oft wurde sogar mit ihnen gehandelt – und hier kamen auch die Reisenden an: bürgerliche Geschäftsleute ebenso wie verarmte Bauern, die in den rapide wachsenden Städten ein neues Auskommen suchten.
Bahnhöfe mussten deshalb von Anfang an höchst widersprüchlichen Anforderungen genügen: Einerseits sollten sie den Wunsch der gehobenen Fahrgastklientel nach einem exquisiten Reiseerlebnis befriedigen; andererseits mussten sie auch funktional sein, und zwar gleichzeitig für den Ansturm der Massen wie für den Güterverkehr.
Bewundert und verrufen
Entsprechend schwierig waren sie in die Stadt zu integrieren. Wegen ihres großen Platzbedarfs meist am Rand der mittelalterlichen Stadtkerne gelegen, erlangten Bahnhöfe schnell einen zweifelhaften Ruf.
In der sprichwörtlichen "Bahnhofsgegend" versammelten sich die Armen und die Halbwelt; hier änderten die Städte besonders schnell ihr Gesicht, verloren mit elektrischer Beleuchtung, Trambahn und Mietskasernen alles Beschauliche.
Allerdings machte genau das die Bahnhöfe so faszinierend: Sie standen für Fortschritt und Dynamik und wurden so zu Monumenten einer technikverliebten Zeit.
Bahnhofsgebäude, die diesem Bild auch äußerlich entsprachen, gab es in Deutschland allerdings erst spät. Während etwa der Pariser "Gare de l'Est" oder Londons "King's Cross" bereits aus den 1850ern datieren, stammen die meisten deutschen Großstadtbahnhöfe erst aus der Zeit nach der Reichsgründung von 1871.
Das lag auch daran, dass vorher das Geld für repräsentative Bahnhofsbauten oft gar nicht vorhanden war. Denn in Deutschland lag das Schienennetz in den Händen vieler kleiner Aktiengesellschaften.
Mit dem wirtschaftlichen Boom, den die Reichseinigung auslöste, und dem dadurch unvermeidlichen Anstieg des Verkehrs waren sie überfordert. Deshalb wurde die Eisenbahn nach und nach verstaatlicht – in Preußen zum Beispiel im Jahr 1880. Und besonders Preußen investierte nun auch in größere Bahnhofsgebäude.
Technische Innovationen, architektonische Beschwichtigung
Einer der ersten spektakulären Neubauten war der Bahnhof Frankfurt am Main. Er entstand von 1883 bis 1889 und war damals der größte in ganz Europa.
Besonders die fast 200 Meter lange Bahnhofshalle sorgte für Aufsehen: Mit ihren bogenförmigen Stahlträgern, dem Glasdach und den verglasten Stirnwänden war sie eine Meisterleistung der Ingenieurskunst.
Den alten Frankfurter Bahnhofsgebäuden zollte sie trotzdem Tribut: Ihre drei Hallenschiffe sollten an die drei Einzelbahnhöfe erinnern, die vorher an dieser Stelle gestanden hatten – säuberlich voneinander getrennt, da sie unterschiedlichen Gesellschaften gehört hatten.
Auch in einer anderen Hinsicht wurde der Frankfurter Bahnhof wegweisend: Wie viele Bahnhöfe nach ihm ist er eigentlich ein architektonischer Zwitter. Seine damals hochmoderne Halle aus Stahl und Glas versteckt sich hinter einem Empfangsgebäude, gestaltet im Stil der Neorenaissance.
Von außen konnte man also bestenfalls ahnen, welch technische Wunder sich hinter der reich verzierten Fassade verbargen – eine Art Beschwichtigungsgeste an all jene, die sich von der Industriemoderne überfahren fühlten.
Die verschiedenen Bahnhofsarten
Wie der Bahnhof Frankfurt am Main waren auch die meisten anderen Bahnhofsneubauten der Gründerzeit Kopfbahnhöfe. Die Züge konnten nicht durch sie hindurch fahren, sondern landeten in der Bahnhofshalle wie in einer Sackgasse.
Großstädte wie Berlin, London und Paris hatten sogar mehrere solcher Kopfbahnhöfe – für jede Reiserichtung einen anderen. Wollte man umsteigen, musste man erst mühsam durch den Innenstadtverkehr vom einen zum anderen Bahnhof gelangen.
Sogenannte Durchgangsbahnhöfe wurden eher in grenznahen Städten angelegt, wo die Bahnhöfe von Beginn an als Transitpunkte gedacht waren – etwa in Köln, Aachen oder Mannheim. Wegen der augenfälligen Vorteile sind in den vergangenen Jahrzehnten viele Kopf- zu Durchgangsbahnhöfen umgebaut worden.
Schnell entdeckte man im 19. Jahrhundert auch, welches Potenzial Bahnhöfe für Geschichten und Inszenierungen bargen. Mit großer Geste bereitet zum Beispiel Tolstois Anna Karenina auf dem Bahnhof von St. Petersburg ihrem Leben ein Ende, indem sie sich vor einen Zug stürzt.
In England und Frankreich hielten viele Politiker ihre Wahlkundgebungen im Bahnhof ab, und an den deutschen Bahnhöfen wurde 1914 der Aufbruch der Soldaten an die Front als vaterländisches Spektakel inszeniert.
Der Stettiner Bahnhof in Berlin soll sogar bereits so geplant worden sein, dass sich von ihm aus größere Truppenbewegungen und der Transport von Militärgütern umstandslos organisieren ließen. Bis zum Ersten Weltkrieg war europaweit das Schienennetz so weit entwickelt, dass kaum noch Bedarf an weiteren Strecken bestand. In der Folge stagnierte deshalb auch der Bahnhofsbau.
Die wenigen Neubauten dieser Zeit geben sich kompromisslos modern – allen voran der Bahnhof Santa Maria Novella in Florenz. Entstanden 1933 unter Benito Mussolini, changiert der Koloss aus Stahlbeton stilistisch zwischen architektonischer Moderne und faschistischer Machtbehauptung.
Als einer der ersten Bahnhöfe war er zudem bewusst dem Automobilzeitalter angepasst: An einer Hallenseite finden sich zahlreiche Parkbuchten für Autos und Lieferwagen.
Niedergang seit den 1950ern
Damit kündigte sich bereits eine Entwicklung an, die ab den 1950er-Jahren den Bahnhöfen das Leben schwer machen sollte: die Ausbreitung des Autoverkehrs.
Nun wurden weniger Güter über die Schiene transportiert, viele Menschen nutzten den eigenen PKW. In vielen europäischen Städten kam hinzu, dass bei den Luftangriffen des Zweiten Weltkriegs die Bahnhöfe systematisch zerstört worden waren.
In der jungen Bundesrepublik wurden nur wenige von ihnen wieder aufgebaut – an ihre Stelle traten praktische, aber oft gesichtslose Neubauten. Besonders schwer traf es die Berliner Bahnhöfe: Weil für viele von ihnen in der geteilten Stadt keine Verwendung mehr war, wurden ihre Ruinen gesprengt.
1994 wurde aus der Deutschen Bundesbahn ein privates Unternehmen. Seitdem sind viele unrentable Strecken stillgelegt worden. Weiteres Sparpotenzial hat die Bahn bei den Provinzbahnhöfen ausgemacht: Versehen mit einem Fahrkartenautomaten und von einer Betriebszentrale aus ferngesteuert, funktionieren viele von ihnen mittlerweile ohne einen einzigen Schaffner.
Shoppingcenter mit Gleisanschluss – die Bahnhöfe der Zukunft
Ein gegenteiliger Trend zeigt sich bei den Großstadtbahnhöfen: Sie sind in den vergangenen Jahren deutlich aufgewertet worden. Oft geschieht das mit Hilfe privater Investoren, die in den Bahnhöfen Einkaufscenter anlegen.
Im Leipziger Hauptbahnhof beispielsweise wurden unter der historischen Bahnhofshalle zwei Tiefgeschosse eingezogen, in denen 140 Geschäfte untergebracht sind.
Hier wie andernorts haben sich dadurch die Bahnhöfe von einstigen städtischen Schmuddelecken zu beliebten Sehenswürdigkeiten entwickelt. Gleichzeitig werden aber auch Obdachlose und Arme vertrieben, für die der Bahnhof früher ein wichtiger Anlaufpunkt war.
Durch die Halle des Leipziger Hauptbahnhofs wirbeln nun täglich mehrere Reinigungstrupps, außerdem patrouilliert ein privater Sicherheitsdienst – akribisch dokumentiert von mehreren an der Hallendecke angebrachten Überwachungskameras.
(Erstveröffentlichung 2006. Letzte Aktualisierung 28.04.2020)