Das lebende Fossil
Der Schlitzrüssler gilt als die ursprünglichste Form der Insektenfresser und ist – so vermuten Forscher – der direkteste Nachfahre der Ur-Insektenfresser, die schon zur Zeit der Dinosaurier lebten. Doch vieles ist den Forschern noch unklar. Bekannt ist zumindest, dass es zwei Schlitzrüssler-Arten gibt: Den Kubanischen und den Haiti- oder Dominikanischen Schlitzrüssler. Und dass sie zu den wenigen Säugetierarten zählen, die Gift einsetzen.
Schon vor rund 76 Millionen Jahren huschten die Vorfahren der Schlitzrüssler über die Erde und teilten sich den Planeten unter anderem mit den Dinosauriern. Daher ist der Schlitzrüssler für Forscher so etwas wie ein lebendes Fossil, dessen Erforschung viel über die Entstehungsgeschichte der Säugetiere ans Tageslicht bringen könnte.
Doch die Tiere sind mittlerweile extrem selten und leben nur noch auf Kuba und auf Hispaniola, der Karibik-Insel, auf der die Staaten Haiti und Dominikanische Republik liegen. Da die Tiere fast kein Abwehrverhalten haben, konnten sie offensichtlich nur auf Inseln überleben, auf denen sie kaum Feinde hatten.
Ein Schlitzrüssler kann bis zu einem Kilo schwer und knapp 40 Zentimeter lang werden. Damit ist er im Vergleich zu seinen europäischen Verwandten wie beispielsweise den Feld-Spitzmäusen mindestens viermal so groß. Trotzdem sieht der Schlitzrüssler einer Spitzmaus ähnlich, auch wenn seine Vorder- und Hinterbeine viel länger im Verhältnis zu seiner Körpergröße sind als das bei jeder anderen Spitzmausart der Fall ist.
Sensible Schnauze
Das markanteste Merkmal des Schlitzrüsslers ist seine lange und bewegliche Schnauze, der er seinen deutschen Namen zu verdanken hat: Eine Kerbe an der Unterseite seiner Schnauze sieht aus wie ein Schlitz, die lange Schnauze selbst wie ein Rüssel. Die Schnauze ist auch sein wichtigstes Beutewerkzeug; mit ihr kann der Schlitzrüssler sehr gut riechen und dank seiner sensiblen Tasthaaren kann er sich sehr gut im Dunkeln orientieren.
Schlitzrüssler sollen vorwiegend nachtaktiv und klassische Bodenbewohner sein. Ihre Nahrung besteht vermutlich wie bei allen Insektenfressern in erster Linie aus Insekten oder Regenwürmern, daneben fressen sie jedoch auch kleinere Wirbeltiere wie etwa Frösche oder Echsen.
Ähnlich wie Spitzmäuse verlassen sie nachts ihre Unterkunft, um auf Beutezug zu gehen und setzen dabei Geruchssinn, Gehör, Tasthaare und vermutlich auch eine Art Echo-Ortung zum Auffinden der Beute ein. Zum Schlafen ziehen sie sich in Felsspalten, hohle Baumstämme und selbstgegrabene Erdlöcher zurück, die durchaus auch größere Tunnelsysteme sein können, ähnlich wie beim Maulwurf.
Die Geister der Karibik
Als der Naturforscher Alpheus Hyatt Verrill 1906 auf die Insel Hispaniola kam, um den Dominikanischen Schlitzrüssler zu finden, warnten ihn seine Forscher-Kollegen: Einen Schlitzrüssler zu fangen, sei genauso wahrscheinlich, wie Geister zu finden. Doch Verrill schaffte es, ein Weibchen in die Falle zu locken. Dank dieses Fangs wissen wir heute, dass Schlitzrüssler einen giftigen Speichel produzieren, der durch Rinnen in den unteren Schneidezähnen des Tiers in die Wunden seiner Opfer gelangt.
Auch ein Jahrhundert später hat man kaum mehr über die Tiere in Erfahrung gebracht. Ihr Verbreitungsgebiet ist ebenso unerforscht wie die Zahl der noch lebenden Exemplare, ihre Lebensweise, ihr Jagdverhalten und ob der Schlitzrüssler mit dem Giftbiss seine Beute erlegt oder damit lediglich seine Feinde vertreibt. Zu scheu sind die "Geister der Karibik".
Und möglicherweise bleibt nicht mehr viel Zeit, die lebenden Fossile zu erforschen: Die beiden Schlitzrüssler-Arten gehören zu den am stärksten bedrohten Tierarten unseres Planeten.
Bedrohung des Schlitzrüsslers
Mit den spanischen Kolonial-Siedlern kamen auch Haustiere auf die beiden Inseln Kuba und Hispaniola, und mit der Ruhe für den Schlitzrüssler war es vorbei. Bis heute töten Hunde viele Exemplare der Säuger, und auch für Katzen sind Schlitzrüssler leichte Beute.
Mittlerweile haben Forscher nur noch wenig Hoffnung, dass der Schlitzrüssler die kommenden Jahrzehnte überleben kann: Auf Kuba wurde seit 2003 kein Schlitzrüssler mehr entdeckt, nur noch in der Dominikanischen Republik vermuten Biologen eine überlebensfähige Population.
Dort wollen Forscher Tiere einfangen, um ein Zuchtprogramm einsetzen. Doch ähnliche Versuche mit anderen einzigartigen Säugetieren auf Hispaniola sind in der Vergangenheit gescheitert: Von einst 25 seltenen Arten der Insel haben bis heute nur zwei überlebt, darunter der Schlitzrüssler. Doch Forscher hoffen, dass sein bisheriges Überleben ein gutes Zeichen dafür ist, dass der Schlitzrüssler sich anpassen und trotz der neuen Gefahren überleben kann.
(Erstveröffentlichung 2011. Letzte Aktualisierung 04.03.2020)