Epigenetik und Krankheit
Planet Wissen. 10.04.2024. 04:18 Min.. Verfügbar bis 04.05.2028. WDR.
Forschung
Epigenetik
Im Jahr 2000 präsentierte der damalige US-Präsident Bill Clinton das erste entzifferte Human-Genom. Doch die Heilung schwerer Krankheiten wie Alzheimer und Diabetes war dadurch noch nicht nähergerückt.
Von Franziska Badenschier und Thomas Schwarz
Mehr als die Summe seiner Gene
Der Begriff "Epigenetik" ist zusammengesetzt aus den Wörtern Genetik und Epigenese, also der Entwicklung eines Lebewesens. Epigenetik gilt als das Bindeglied zwischen Umwelteinflüssen und Genen: Sie bestimmt mit, unter welchen Umständen welches Gen angeschaltet wird und wann es wieder stumm wird. Experten sprechen hier von Genregulation.
Nach der Entschlüsselung des ersten Human-Genoms hatte man nun einen Text mit rund drei Milliarden Buchstaben-Paaren aus den vier Lettern A, C, G und T. Doch wirklich entschlüsselt wurden die Geheimnisse des menschlichen Bauplans nicht. Inzwischen ist klar: Gene steuern nicht nur, sondern sie werden auch gesteuert.
Das Genom des Menschen, also alle rund 25.000 Gene, erklärt noch nicht, warum der eine Alzheimer bekommt und der andere schlecht mit Stress umgehen kann, warum zwei Menschen das gleiche Krebs-Gen haben, aber nur einer von ihnen tatsächlich auch Krebs bekommt. Erklären lässt sich das jedoch mit der Epigenetik, einem aufstrebenden Forschungszweig der Biologie.
Viele Krankheiten sind in den Genen vorprogrammiert
Gleiches Genom, unterschiedliche Epigenome
"Der Mensch hat mehr als 200 Zelltypen, und in fast jeder Zelle ist dieselbe DNA-Sequenz, aber nicht in jeder Zelle sind alle Gene aktiv", sagt Thomas Jenuwein vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik. "Die primäre Information, die einen Menschen ausmacht, ist zwar natürlich die Gen-Sequenz, sonst wären eineiige Zwillinge nicht genetisch ident und sich äußerlich so ähnlich".
Doch epigenetische Veränderungen sorgen dafür, dass nur ein Zwilling anfälliger für beispielsweise Diabetes wird. Als spanische Forscher genetisch gleiche Zwillingspaare zwischen drei und 74 Jahren untersuchten, zeigte sich eindeutig: Die jüngsten Zwillinge unterschieden sich in ihrem epigenetischen Code kaum – die ältesten Zwillinge hingegen immens.
Im Laufe des Lebens machen Zwillinge unterschiedliche Dinge durch, entwickeln andere Gewohnheiten oder befinden sich in anderen Lebensumständen – und so entwickeln sich auch ihre epigenetischen Codes mitunter in verschiedene Richtungen.
"Zweiter Code" aus Mini-Molekülen
Doch wie sieht so ein epigenetischer Code überhaupt aus? Die bekannteste Funktionsweise der Epigenetik ist die Methylierung. Dabei docken kleine Moleküle – so genannte Methylgruppen aus einem Kohlenstoffatom und drei Wasserstoffatomen – an den DNS-Strang an und verhindern so, dass die nachfolgende Gensequenz abgelesen und in ein Protein übersetzt werden kann. So wird das Gen ausgeschaltet.
Ebenfalls eine wichtige Rolle bei der epigenetischen Markierung spielt die sogenannte Histon-Acetylierung: Damit der gut zwei Meter lange DNS-Strang einer Zelle auch in den winzig kleinen Zellkern passt, muss er ganz dicht gepackt werden. Dabei windet sich der Strang um bis zu Hunderttausende Perlen, die Histonkomplexe.
DNS windet sich mit Histonen zu einer Perlenkette
Um die dort befindlichen Gene zu aktivieren, muss das Erbgut erst wieder entpackt werden. Dabei helfen kleine Moleküle, die Acetylgruppen, welche den DNS-Strang lockern und die Gene an dieser Stelle lesbar machen.
Auf der Karte des menschlichen Genoms kann man dann die Stellen mit den Sondermolekülen markieren und erhält so neben dem genetischen Code das Epigenom als "zweiten Code".
Allerdings gibt es nicht nur einen zweiten Code: Ein Mensch hat unzählige Epigenome. Immerhin enthält jeder Zelltyp zwar die gleiche Gensequenz, aber andere Markierungen.
Grüner Tee und Gelée royale schalten gute Gene an
Die Epigenetik öffnet so manche Blackbox: Schon länger ist bekannt, dass grüner Tee so gesund ist, dass er in Japan die Krebsstatistik verbessert. Doch warum das so ist, ließ sich erst mit der Epigenetik klären. Beim Aufbrühen der unfermentierten Teeblätter löst sich ein Stoff mit dem komplizierten Namen Epigallocatechin-3-Gallat (EGCG) heraus.
Dieser Stoff reaktiviert ein Gen, das den Bauplan für einen Krebs-bekämpfenden Stoff liefert. Gerade bei älteren Menschen ist dieses Gen oft methyliert und deswegen stumm – die Anti-Krebs-Wirkung dieses einen Gens wäre also dahin. Der grüne Tee wirkt wie ein Peeling für die Gensequenz.
Grüner Tee gegen Tumore
Auch bei Bienen wird deutlich, wie sehr allein Nahrung epigenetisch wirken kann: Wer einen Honig-Pollen-Brei bekommt, wird eine sterile Arbeiterbiene, und wer Gelée royale naschen darf, wird eine Königin.
Warum das so ist, haben Wissenschaftler mittlerweile herausgefunden: Der Honig-Pollen-Brei sorgt dafür, dass Gene für die Bienenentwicklung außerordentlich methyliert und somit stummgeschaltet werden. Umgekehrt enthält das königliche Gelée bis zu fünf Prozent einer Fettsäure, die stummgeschaltete Gene epigenetisch wieder aktivieren kann.
"Traumata vernarben Erbgut"
Auch menschliche Beziehungen haben nachhaltigen Einfluss auf das Epigenom und somit auf das Leben und die Gesundheit: Ein Säugling zum Beispiel, der zu wenig Liebe und Geborgenheit erhält, bekommt offenbar nicht nur Bindungsprobleme, sondern hat auch biologisch nachweisbar Störungen im Stresshormon-System.
"Traumata sorgen nicht nur für Narben in der Seele, sondern auch für Narben im Erbgut", veranschaulicht der Depressionsforscher Florian Holsboer die epigenetischen Markierungen. Wenn diese Narben auch im Erbgut der Keimzellen sind, dann werden sie sogar weitervererbt, wie Epigenetiker herausgefunden haben.
Mutterliebe prägt Stressreaktionssystem des Babys
Epigenetische Markierungen können vererbt werden
Ein Beispiel für das epigenetische Gedächtnis ist jenes der schwangeren Holländerinnen aus dem Hungerwinter 1944/45. Dass die Frauen untergewichtige Babys zur Welt brachten, erscheint plausibel.
Doch dann zeigte sich: Der Nachwuchs hatte überdurchschnittlich oft Depressionen, Übergewicht oder Schizophrenie. Erstaunlich früh bekamen die Kinder Alterskrankheiten wie Herzprobleme oder Diabetes.
Eine weitere Untersuchung belegte, dass die Söhne der "Hungerwinter-Mütter" vorwiegend übergewichtigen Nachwuchs hatten. Die Erfahrung dieser Mütter und dem daraus resultierenden Bestreben, einer Hungersnot mit dem Anlegen von Fett-Reserven vorzubeugen, wirkte sich also augenscheinlich bis in die übernächste Generation aus – und das, obwohl die Enkel doch in einer Zeit mit Nahrung im Überfluss und mit weniger Nöten gezeugt worden waren.
Die Erbsubstanz der Enkel enthielt also offenbar auch Informationen über die Lebensbedingungen der Großeltern.
Gegen diese These spricht jedoch, dass der Nachwuchs der Töchter der "Hungerwinter-Mütter" kaum überwichtig war. Wissenschaftler wie etwa Steven Henikoff, der am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle Genregulation erforscht, gehen davon aus, dass der übergewichtige Nachwuchs der Söhne dieser Mütter zum Beispiel auf schlechte Essgewohnheiten der Eltern zurückzuführen ist, die sich auch auf die Kinder ausgewirkt haben.
Hungerwinter 1944/1945 in Holland
Diskussion um Evolutionstheorien
Damit ist unter den Wissenschaftlern eine kontroverse Diskussion entbrannt. Denn es geht nicht mehr nur um Methylgruppen, Gene und Datenbanken, sondern auch um die Evolutionstheorie.
"Das epigenetische Gedächtnis zeigt, dass Lamarck rehabilitiert werden muss", sagten die einen. Der französische Biologe Jean-Baptiste Lamarck war der Kontrahent von Charles Darwin und hatte im 19. Jahrhundert eine der ersten Evolutionstheorien entwickelt.
Demnach reckten zum Beispiel Giraffen umso mehr ihre Hälse, je höher an den Bäumen die schmackhaften Blätter hingen. Dieser verlängerte Schlund würde dann an die Nachkommen vererbt.
Eigenschaften, die sich erst im Laufe eines Lebens entwickeln, werden vererbt: Das war Lamarcks These und so geschieht es in der Epigenetik, wenn Genschalter in Samen- oder Eizelle umgelegt werden und diese Weichen auf den Nachwuchs übergehen.
Evolutionstheorie: Hatte Lamarck auch recht?
Demgegenüber sagen die anderen, dass Epigenetik Teil des Darwin'schen Anpassungsmechanismus ist. Denn dem Postulat zufolge überlebt ja nicht der Stärkste, sondern das Individuum, das an seine Umwelt und Lebenssituation am besten angepasst ist. Epigenetiker Thomas Jenuwein erklärt das so:
"Epigenetik stellt weiche Veränderungen dar, Veränderungen, die die Anpassungsfähigkeit in einem Leben ausmachen, die aber durchaus rückgängig gemacht werden können. Die Genetik hingegen sorgt für harte Veränderungen, denn DNS-Mutationen sind nicht reversibel. Damit treiben diese Mutationen aber eben die Evolution nach vorne."
DNS-Sequenz: vier Buchstaben für die Evolution
Eine epigenetische Vererbung beim Menschen erscheint auch deshalb eher unwahrscheinlich, da bei allen Säugetieren eine strikte Trennung zwischen Körperzellen und Keimzellen herrscht. Körperzellen reagieren auf Umwelteinflüsse, können diese Information aber nicht an Nachkommen weitergeben.
Das können nur die Keimzellen. Bei ihnen werden jedoch fast alle epigenetischen Marker in zwei "Säuberungswellen" sorgfältig entfernt. Im Gegensatz dazu kennen Pflanzen weder diese strikte Trennung noch die beiden Säuberungswellen. Deshalb ist eine epigenetische Vererbung bei ihnen auch deutlich verbreiteter.
Neue Erkenntnisse für die Medizin?
Vielleicht ist Lamarcks Evolutionstheorie auch einfach ein Teil innerhalb Darwins Theorie? Den Wissenschaftlern werden wohl die Thesen für Diskussionen und Ansätze für die Forschung in den kommenden Jahren nicht ausgehen.
Wo zeigt sich noch, dass epigenetische Veränderungen vererbt werden? Wie genau funktionieren die epigenetischen Mechanismen im Detail? Welche Gene werden durch welche Lebensmittel und Lebensstile angeschaltet, welche ausgeschaltet? Und wie lässt sich das für Therapien von Krankheiten nutzen?
Ob sie valide Antworten auf diese Fragen finden werden, ist allerdings unklar. Die einen Wissenschaftler erwarten von der epigenetischen Forschung keine wichtigen neuen Erkenntnisse für die Medizin.
Sie begründen das damit, dass die meisten Studien, die belegen wollen, dass die Ursachen für Krankheiten im Epigenom liegen, an Problemen im Design und in der Durchführung leiden, so dass ihre Interpretierbarkeit stark beeinträchtigt ist. Ihrer Ansicht nach ist es schwierig, eindeutig zu bestimmen, ob der Zustand einer untersuchten epigenetischen Regulierung tatsächlich eine mögliche Ursache oder doch Folge einer Krankheit ist.
Außerdem ist der Nachweis epigenetischer Einflüsse beim Menschen kaum zu führen. Denn während sich Tiere und Pflanzen kontrolliert kreuzen und manipulieren lassen, ist das beim Menschen unmöglich. Und Ergebnisse aus Tierexperimenten lassen sich nicht so ohne Weiteres auf Menschen übertragen.
Demgegenüber räumen andere Wissenschaftler der Epigenetik eine große Bedeutung ein. Sie erhoffen sich dadurch ein besseres Verständnis von Krankheiten und deren Behandlung und gehen davon aus, dass sich die Epigenetik neue Wege in der medizinischen Forschung eröffnen wird.
(Erstveröffentlichung: 2011. Letzte Aktualisierung: 29.04.2020)
Quelle: WDR