Westeuropa

Bretagne

Fjordartige Buchten, weit ins Meer ragende Felsklippen und eine karge Vegetation: Wenn man mit verbundenen Augen an der bretonischen Küste ausgesetzt würde, würde man kaum vermuten, dass man sich in Frankreich befindet.

Von Tobias Aufmkolk

Friedliche keltische Einwanderungswellen

Die Landschaft erinnert eher an Wales, Schottland oder Irland. Und nicht nur die Landschaft: Die Bretagne fühlt sich durch und durch der keltischen Kultur verbunden. Allerorten trifft man auf sie, in Bauwerken, in Sagen und Legenden, in der Musik und in der Sprache. Diese keltische Kultur prägt die französische Region seit mehr als 2500 Jahren.

Als im 6. Jahrhundert vor Christus keltische Stämme zum ersten Mal das Gebiet der heutigen Bretagne erreichen, ist die Blütezeit der Megalithkultur mit den imposanten Steinreihen, Dolmen und Menhiren längst vorüber. Auf der Suche nach neuen Siedlungsräumen landen die Kelten an der bretonischen Küste und nennen das Land "Aremorica" – "Land vor dem Meer".

Die verschiedenen Stämme sind sich zwar untereinander nicht sonderlich wohlgesonnen, dennoch etablieren sie für die nächsten vier Jahrhunderte die keltische Kultur in der Bretagne. Erst als Cäsar im 1. Jahrhundert vor Christus seinen Arm nach Gallien ausstreckt, dem heutigen Frankreich, müssen sich die keltischen Stämme nach hartnäckigem Widerstand geschlagen geben.

Um 300 nach Christus zeigen sich erste Auflösungserscheinungen im Westen des Römischen Reiches. Immer wieder fallen Germanenhorden in die Bretagne ein, plündern Städte und Dörfer und sorgen für einen starken Bevölkerungsrückgang.

In der Folge ist die Region nur noch sehr dünn besiedelt. Ideale Voraussetzungen für keltische Stämme von der britischen Insel, die auf der Flucht vor Angeln, Sachsen und Jüten ab 460 in die Bretagne übersetzen und das Land wieder kultivieren.

Die Einwanderer bringen das Christentum mit und geben der Bretagne ihren heutigen Namen: Klein-Britannien. Die christlichen Inselkelten legen den Grundstein der bretonisch-christlichen Kultur, mit der sich bis heute fast alle Bretonen identifizieren.

Rebellen, Könige und eine Nationalheldin

"Wir sind Kelten", sagen die Bretonen immer noch von sich. Paris ist weit weg, nicht nur geographisch, sondern auch in den Köpfen der einheimischen Bevölkerung. Die Besinnung auf die keltischen Ursprünge hat die Bretonen im Laufe der Geschichte immer wieder zu Aufständen gegen fremde Besatzer angetrieben.

Schon die Legionen Cäsars werden in ständige Scharmützel mit aufständischen Kelten verwickelt. Die Geschichten um den Comic-Helden Asterix, der tapfer und listenreich mit einer kleinen Schar Gleichgesinnter gegen die römische Übermacht kämpft, haben durchaus einen wahren Kern.

799 unterwirft Frankenkönig Karl der Große die Bretagne. Sein Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme macht jedoch einen entscheidenden Fehler. Er ernennt den bretonischen Grafen Nominoë zum Herzog der Bretagne. Dieser denkt aber gar nicht daran, Tributzahlungen an das Fränkische Reich zu entrichten.

Nominoë lehnt sich gegen die Besatzer auf und fügt den fränkischen Truppen 845 eine vernichtende Niederlage zu. Sein Sohn Erispoë krönt sich 851 zum ersten bretonischen König. Gut 100 Jahre hat das bretonische Königreich Bestand, danach zersplittert das Reich in mehrere, untereinander verfeindete Grafschaften.

Die berühmteste Bretonin ist zweifellos Herzogin Anne de Bretagne. Sie ist das einzig verbliebene Kind des 1488 im Kampf gegen Frankreich gefallenen Herzogs Franz II. Die europäischen Adelshäuser reißen sich um die elfjährige Bretonin, sechs Freier sollen um ihre Gunst buhlen. Sie gibt schließlich dem recht rüden Werben des französischen Königs Karl VIII. nach, der die Stadt Rennes mit 40.000 Soldaten belagert.

Der Legende nach verlieben die beiden sich sogar bei ihrer ersten Begegnung. Formal ist das bis dato unabhängige Herzogtum Bretagne nun an Frankreich angeschlossen. Doch die kluge Anne handelt so viele Privilegien aus, wie sie keiner anderen französischen Provinz zugestanden werden.

Herzogin Anne, die Nationalheldin der Bretagne | Bildquelle: akg-images

Die Bretonen und Frankreich

"Aus Frankreich kommt nichts Gutes" – diesen Standpunkt vertreten viele Bretonen bis heute. Zu Beginn der Französischen Revolution im Jahre 1789 sind viele Bretonen von der Bewegung begeistert, einige treiben sie sogar maßgeblich mit an. Doch als die Pariser Revolutionäre neben dem Adel auch die katholische Kirche als Übel des alten Systems ins Visier nehmen, kippt die Stimmung in der christlich-konservativen Bretagne.

Es formiert sich die Widerstandsbewegung der Chouans, die mit einer Art Guerillataktik dem Zentralstaat bis in die napoleonische Zeit arg zusetzt, letztendlich aber doch zerschlagen wird. Aus dieser Zeit resultiert das Bild vom rückständigen, widerborstigen Bretonen in Frankreich, der sich den Errungenschaften der Moderne verschließen will.

Die Chouans waren Gegner der Revolution | Bildquelle: akg-images

So ist es nicht verwunderlich, dass während des Ersten Weltkrieges Bretonen als Kanonenfutter an die vorderste Front geschickt werden. Keine andere französische Region muss in den vier Jahren des Krieges so viele Verluste hinnehmen wie die Bretagne.

Auch im Zweiten Weltkrieg hat die Region hohe Verluste zu verzeichnen. 1944 glauben viele Franzosen, der Großteil der Bretonen habe mit den Deutschen kollaboriert.

Tatsächlich hat in den Jahren zuvor eine kleine Minderheit bretonischer Nationalisten mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet. Ein weitaus größerer Teil der Bevölkerung engagiert sich dagegen in der französischen Widerstandsbewegung, der Résistance.

Dennoch werden alle, die sich zu dieser Zeit für die bretonische Kultur und Sprache einsetzen, unter Generalverdacht gestellt. Viele von ihnen lässt die französische Armee standrechtlich erschießen.

Lange Zeit ein Symbol des Widerstandes – die bretonische Flagge | Bildquelle: dpa/Burkhard Juet

Die geschrumpfte Region

Das Verhältnis zwischen Bretonen und restlichen Franzosen ist auch im späten 20. Jahrhundert nachhaltig gestört. Wie wenig sich Paris um die Belange der Bretonen schert, zeigt die Gebietsreform von 1964.

In dieser Reform sollen neue homogene Wirtschafts- und Verwaltungseinheiten geschaffen werden. Im Klartext bedeutet das für die Bretagne: Sie verliert einen wichtigen Teil ihrer historisch gewachsenen Region.

Die ehemalige Hauptstadt Nantes und ihr Umland werden dem Département Loire-Atlantique zugeschlagen. Nun reicht die Region offiziell noch von der Bucht von Mont-Saint-Michel im Nordosten bis knapp südlich des Golfe du Morbihan im Südwesten.

Auch mit der bretonisch sprechenden Bevölkerung geht der französische Staat im 20. Jahrhundert nicht gerade zimperlich um. Bis 1954 ist es verboten, an Schulen Bretonisch zu sprechen. Schüler, die es dennoch tun, werden hart bestraft.

Seitdem darf die Sprache, die mit den britannischen Sprachen Kornisch und Walisisch verwandt ist, an Schulen und Universitäten zumindest als Fremdsprache gelehrt werden. Bretonische Vornamen sind offiziell sogar erst seit 1966 erlaubt.

Doch die Bretonen bleiben hartnäckig. In den 1970er-Jahren eröffnen erste privat finanzierte Kindergärten und Grundschulen, in denen ausschließlich Bretonisch gesprochen wird.

Zweisprachige Orts- und Straßenschilder werden seit den 1980er-Jahren aufgestellt, auch wenn der Staat nur den französischen Namen akzeptiert. Trotz aller Bemühungen der Bretonen, die Sprache in Frankreich zu etablieren, ist sie in Frankreich bis heute offiziell nicht anerkannt.

Zweisprachige Straßenschilder sind mittlerweile überall anzutreffen | Bildquelle: imago/ecomedia/robert fishman

Wiederbelebung der Kultur

Verwaltungsreform und Unterdrückung der Sprache führen in den 1960er-Jahren dazu, dass Organisationen wie die "Front de Libération de la Bretagne" (FLB) Bombenanschläge auf Einrichtungen des französischen Staates verüben. Ziel dieser Organisation ist es, mit allen Mitteln in den Medien eine Diskussion über die Unterdrückung der bretonischen Kultur anzuregen.

Über die Wirkung der Aktionen wird bis heute in der Bretagne leidenschaftlich gestritten. Fest steht, dass die bretonische Kultur lange nicht so lebendig war wie in der Gegenwart.

Das mag auch daran liegen, dass die Tourismusindustrie das bretonische Erbe für sich entdeckt hat. Nach dem Niedergang der Fischereiindustrie in den 1990er-Jahren ist der Fremdenverkehr längst zu einer der wichtigsten Einnahmequellen geworden. Und mit der keltischen Vergangenheit lässt sich gutes Geld machen. Keltische Festivals sprießen überall aus dem Boden, sogenannte keltische Zirkel beleben vor allem in den Sommermonaten die Theater- und Musiklandschaft.

Die Bretagne ist nach der Côte d'Azur die am meisten besuchte Region in Frankreich. Den mit Abstand größten Teil der jährlichen Besucher stellen dabei die Franzosen. Zumindest in diesem Bereich scheint der Rest des Landes die Region im äußersten Westen lieb gewonnen zu haben.

Die bretonischen Strände sind auch in der Hochsaison nicht überfüllt | Bildquelle: AFP/Sebastien Salom Gomis

(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 05.03.2021)