Das Volk rebelliert
Im Dezember 2001 gärt es in den Städten Argentiniens. Der Staat ist finanziell ruiniert, hoch verschuldet und zahlungsunfähig. Wer kann, zieht sein Geld in sichere Gefilde ab.
Mit unorthodoxen Methoden versucht die Regierung, wenigstens etwas Geld im Land zu behalten. Der sogenannte "Corralito" (Laufställchen) wird eingeführt: Jeder Bürger darf im Monat nur noch 1000 Pesos, das entspricht etwa 1000 US-Dollars, von seinem Konto abheben. Der Rest wird eingefroren. Zudem wird ein Teil des in Dollar angelegten Vermögens in die einheimische Währung zurückgeführt.
Über Nacht verlieren viele Argentinier ihr gesamtes Geld. Das ist sogar dem sonst eher trägen Mittelstand zu viel. Tausende von Menschen gehen in Buenos Aires auf die Straße und protestieren lautstark mit Kochtöpfen und Kochlöffeln gegen die Regierung.
"Sie sollen alle abhauen" ist der Slogan der Demonstranten in diesen Wochen. Die Politik hat sämtliches Vertrauen verspielt. Am 18. Dezember verhängt Präsident Fernando de la Rúa den Ausnahmezustand. Das bringt das Fass zum Überlaufen. Eine weitere Entmündigung wollen sich die Argentinier nicht gefallen lassen.
Die Proteste gipfeln in blutigen Straßenschlachten mit der Polizei. Vier Tage später ist der Präsident bereits gestürzt. Nach mehreren Todesopfern bei den Demonstrationen flieht de la Rúa am 22. Dezember mit dem Hubschrauber aus dem Präsidentenpalast. Zum ersten Mal in Argentiniens Geschichte stürzt das Volk – und nicht das Militär – einen Präsidenten.
Exportweltmeister und Wohlfahrtsstaat
Doch wie konnte es überhaupt zu einer derartigen Wirtschaftskrise kommen? Anfang des 20. Jahrhunderts gehört Argentinien noch zu den reichsten Ländern der Erde. "Reich wie ein Argentinier" ist zu dieser Zeit ein beliebtes Sprichwort in Europa.
Das Land in Südamerika ist ein wichtiger Nahrungsmittellieferant für das durch den Ersten Weltkrieg zerstörte Europa. Doch Argentinien ist zu einseitig auf die Agrarwirtschaft orientiert. Die Weltwirtschaftskrise 1929 trifft das Land hart. Die Rohstoffpreise fallen in den Keller, die Exporte gehen massiv zurück.
In den 1930er-Jahren treten zum ersten Mal Konflikte zwischen Arm und Reich auf. Arbeiter organisieren sich und protestieren gegen die erzkonservativen, meist durch Wahlbetrug an die Macht gekommenen Regierungen.
Erst unter der Präsidentschaft von Juan Domingo Perón (1946-1955) können die Konflikte zwischen Arm und Reich beigelegt werden. Perón stellt gigantische Sozialprogramme auf die Beine, die den Staat viel Geld kosten. Zu viel Geld: Am Ende seiner zweiten Amtszeit ist Argentinien bereits stark verschuldet.
Das Erbe der Diktatur
Die folgenden Regierungen können die unter Perón gemachten Schulden nicht ausgleichen. Im Gegenteil: Unter der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verschärfen sich die Probleme weiter. Durch verstärkte Importe von Konsumgütern gerät die mühsam aufgebaute einheimische Industrie so sehr unter Druck, dass viele Unternehmen pleitegehen.
Der 1983 demokratisch gewählte Präsident Raúl Alfonsín erbt von den Militärs ein riesiges Haushaltsdefizit, einen hohen Schuldenberg und eine Wirtschaft in desolatem Zustand. An diesen Hürden kann er nur scheitern.
Alfonsín bekommt die Inflation nicht in den Griff. Zwischen 1983 und 1989 beträgt die jährliche Inflationsrate durchschnittlich 300 Prozent. Trotz zahlreicher Versuche die Wirtschaft anzukurbeln, ist gegen Ende seiner Amtszeit das Land zahlungsunfähig.
Zudem bekommt Argentinien keine Kredite mehr von internationalen Kreditgebern. Im Mai 1989 plündern Tausende von Menschen Supermärkte in den ärmeren Vierteln von Buenos Aires. Alfonsín muss fünf Monate vor Ende seiner Präsidentschaft zurücktreten.
Die große Illusion
Carlos Menem, ein selbst erklärter Anhänger Peróns, übernimmt 1989 das Präsidentenamt. Geradezu gebetsmühlenartig wiederholt er während der ersten Zeit die Worte: "Bald werden wir zur Ersten Welt gehören".
Mit den sozialpolitischen Prinzipien Peróns hat Menem aber wenig gemein. Er setzt sofort ein radikales Privatisierungsprogramm um und verkauft fast alle Staatsunternehmen. Dazu koppelt er den schwachen argentinischen Peso an den amerikanischen Dollar, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Fortan ist ein Peso einen US-Dollar wert.
Schlagartig werden die Argentinier um ein Vielfaches reicher als alle anderen Lateinamerikaner. Buenos Aires wird zu einer der teuersten Städte der Welt. Selbst einfache Angestellte unternehmen große Reisen und kaufen in Massen wertvolle Konsumgüter.
Durch die Senkung der Einfuhrzölle und die Privatisierungen gelangen viele ausländische Investitionen nach Argentinien. Anfang bis Mitte der 1990er-Jahre wächst die Wirtschaft um durchschnittlich acht Prozent pro Jahr. Doch dieses wirtschaftliche Hoch hält nicht lange an.
Der totale Zusammenbruch
Nach Menems Wiederwahl 1995 geht es kontinuierlich bergab mit Argentinien. Es kristallisiert sich heraus, dass der vermeintliche Reichtum nichts als eine große Illusion ist. Mittlerweile sind fast alle Staatsbetriebe privatisiert, die ausländischen Investitionen versiegen. Die Gewinne aus den ehemaligen Staatsbetrieben fließen ins Ausland ab.
Ende der 1990er-Jahre brechen die Rohstoffpreise für Soja und Weizen ein, Argentinien erzielt immer weniger Geld aus den Exportgeschäften. Der Staat kommt mit der Tilgung seiner Auslandsschulden in Verzug. Für frisches Geld müssen immer höhere Zinssätze bezahlt werden. Prognosen auf dem Weltmarkt sagen Ende der 1990er-Jahre die Zahlungsunfähigkeit Argentiniens voraus.
Menem ist am Ende. Er hinterlässt seinem Nachfolger Fernando de la Rúa ein höchst verschuldetes und zutiefst korruptes Land. Die Regierung unter de la Rúa erweist sich als unfähig, die Lage in den Griff zu bekommen.
Aus Angst vor dem totalen Zusammenbruch nehmen viele Argentinier ihr Geld von der Bank, horten es zu Hause oder tauschen es in Dollar um. Die Banken trocknen aus. Aus diesem Grund veranlasst der schwer angeschlagene Präsident das Einfrieren aller Privatkonten. Eine Maßnahme, die ihn im Dezember 2001 sein Amt kostet.
Schritt für Schritt aus der Krise
Die wirtschaftliche Lage ist so katastrophal, dass das Land innerhalb der nächsten zehn Tage fünf Präsidenten verschleißt. Niemand will oder kann den Job ausfüllen, bis Eduardo Duhalde am 1. Januar 2002 das Amt antritt. Er erklärt sofort den Staatsbankrott und hebt die Peso-Dollar-Bindung auf. Schritt für Schritt führen Duhalde und sein Wirtschaftsminister Roberto Lavagna Argentinien aus der Krise.
Zunächst werden alle Bankfilialen wieder geöffnet, die Argentinier dürfen wieder an ihr Geld. Lavagna versucht in der Folgezeit den Peso gegenüber dem Dollar möglichst niedrig zu halten, was die Industrieproduktion ankurbelt. Argentinische Produkte sind fortan auf dem Weltmarkt billiger zu haben.
Auch der nächste Präsident Néstor Kirchner hält nach seiner Wahl im Mai 2003 an Lavagna fest. In langwierigen und zähen Verhandlungen mit den Gläubigern erwirkt dieser einen Schuldennachlass zu äußerst günstigen Bedingungen für Argentinien. Und auch die Wirtschaft wächst wieder, nicht zuletzt durch die hohen Rohstoffpreise für landwirtschaftliche Güter.
China wird ein immer wichtigerer Importeur argentinischer Produkte. Doch trotz aller Beteuerungen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, bleibt die Wirtschaft des zweitgrößten südamerikanischen Landes sehr zerbrechlich.
(Erstveröffentlichung 2009. Letzte Aktualisierung 08.03.2020)