Brücke der Superlative
Ein Problem war, dass es auf der gesamten Strecke nur einen Höhenunterschied von 17 Metern gab. Agrippa stellte die besten Ingenieure des Reiches an, damit sie eine Leitung bauten, bei der die Neigung auf der kompletten Strecke konstant blieb und so das Wasser fließen konnte.
Ein weiteres Hindernis galt als unüberwindbar: Durch den geplanten Verlauf des Aquädukts kreuzte der Fluss Gardon in einem 50 Meter tiefen Tal.
Agrippa entschloss sich, eine Brücke zu bauen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte: den "Pont du Gard". Die damalige Brückenbaukunst war schon weit entwickelt. Die Römer hatten das Prinzip des Rundbogenbaus von den Etruskern abgeschaut.
Der "Pont du Gard" besteht aus insgesamt 52 Halbbögen. Die sechs unteren Bögen tragen die elf Bögen des nächsten Stocks, die wiederum tragen die oberste Reihe mit 35 Bögen, über welche das Aquädukt verläuft. Erst die Kunst des Wölbens ermöglichte es, Täler und Flussläufe zu überbrücken, sei es als Einzelgewölbe oder als ganze Gewölbereihe.
Das Halbbogenprinzip
Jeder einzelne Bogen hat eine Halbkreisform, die aus präzise keilförmig gehauenen Steinen besteht. Die Steine wiegen im Schnitt sechs Tonnen. Die Fugen zwischen den Steinen zeigen zum Mittelpunkt des jeweiligen Halbkreises. Diese Rundbogenstruktur ist um ein Vielfaches belastbarer als gerade gehauene Träger gleicher Stärke.
Durch die spezielle Form werden die auftretenden Kräfte, etwa das enorme Eigengewicht oder die Lasten, nicht nur senkrecht nach unten weitergegeben, sondern auch nach außen. Deshalb müssen Brücken dieser Art neben einer stabilen Verankerung mit dem Boden auch an den Seiten gut befestigt sein.
Die Römer hatten die Kraftlinien des Bogens erkannt. Der "Pont du Gard" wurde mittels des Rundbogenprinzips so konstruiert, dass auftretende Kräfte direkt an Verankerungen und Stützpfeiler weitergeleitet werden und die Brücke dadurch eine außergewöhnliche Stabilität besitzt.
Überall in Südeuropa finden sich antike Aquädukte
Auf gut Glück
Die Römer wussten zwar, dass die Rundbogenform um ein Vielfaches stabiler ist als ein System von senkrechten und waagerechten Trägern. Trotzdem konnten sie die enormen Kräfte, welche die fertige Brücke tragen musste, noch nicht genau berechnen. Beim Bau des "Pont du Gard" verließen sie sich deshalb auf Erfahrungswerte und setzten auf Sicherheit durch hohe Materialstärke.
Trotzdem blieb der Bau ein Wagnis: Die Bögen des "Pont du Gard" haben im unteren Stockwerk eine Spannweite von 15 bis 24 Metern. In der Regel waren die Spannweiten zu dieser Zeit aber nicht größer als vier bis fünf Meter. Auch die Höhe von 50 Metern war mit dieser Bauweise noch nie zuvor erreicht worden.
Die Stadt Nîmes musste mit Wasser versorgt werden
Stabilität ohne Bindemittel
Trotz allem steht die Brücke noch heute und gilt als Musterbeispiel für römische Ingenieurskunst. Zu Recht: Die erreichte Stabilität ohne exakte mathematische Formeln grenzt fast an ein Wunder, wenn man berücksichtigt, dass die Brücke ohne Bindemittel wie Zement gebaut wurde.
Das Kräfteverhältnis in der Konstruktion ist so durchdacht, dass sich die Brücke selbst durch gegenläufige Druckanteile stabilisiert. Das einzige Bindemittel, das beim Bau verwandt wurde, ist eine zementartige Mischung, aus der ein Fundament für die Pfeiler gebaut wurde, die im Wasser des Flusses stehen.
Weltkulturdenkmal
800 bis 1000 Menschen bauten mehr als drei Jahre lang am Bau des "Pont du Gard". Der Bauherr Agrippa soll die Fertigstellung nicht mehr erlebt haben. Rund 500 Jahre lang floss Wasser durch die Wasserleitung, bis sie schließlich verkalkt war und andere Quellen zur Wasserversorgung gefunden wurden.
Heute zählt der "Pont du Gard" laut Unesco zu den bedeutendsten Kulturdenkmälern Europas und ist eine der größten Touristenattraktionen Frankreichs.
(Erstveröffentlichung 2003. Letzte Aktualisierung 17.03.2021)
Quelle: WDR