Portraitaufnahme von Anja Senz.

Neue Seidenstraße

China und Europa: "Jede Menge falsche Vorstellungen"

Wenn man wenig voneinander weiß, bleibt viel Raum für Vorurteile. Das gilt auch für Europa und China. Die Sinologin Anja-Désirée Senz von der Universität Heidelberg versucht das Wissen übereinander zu vergrößern. Leicht ist das nicht.

Von Beate Krol

Planet Wissen: Frau Prof. Senz, es gibt viele Klischees über China. Welches stört Sie am meisten?

Anja-Désirée Senz: Es gibt ganz generell den Hang dazu, das Verhalten von Chinesinnen und Chinesen pauschal mit der chinesischen Kultur oder dem Konfuzianismus zu erklären. Vor allem, wenn man etwas nicht auf Anhieb versteht. Dieses Exotisieren finde ich problematisch.

Von welchen Vorstellungen sollten wir uns verabschieden?

Oft denkt man, die Menschen in China wollen sich im Kollektiv bewegen. In der Realität sind Chinesinnen und Chinesen aber sehr individualistisch, so wie wir umgekehrt in Europa und Deutschland auch einen Gemeinschaftssinn haben.

Ein anderer Mythos ist die vermeintliche Effektivität in China, also das schnelle Bauen von Flughäfen und die im Vergleich zu Deutschland effektivere Wirtschaft.

Warum ist das ein Mythos? Die Flughäfen werden ja tatsächlich schneller fertig.

Weil man damit gravierende Nebenwirkungen ausblendet wie beispielsweise Geldverschwendung oder die Verletzung von Bürgerrechten im Zuge von Enteignungen.

Auch die veröffentlichten Zahlen sollte man nicht immer für bare Münze nehmen. Oft handelt es sich um Planungszahlen, die zwar etwas über die erwünschte Zukunft aussagen, aber nicht viel über die aktuelle Realität.

Besonders wichtig ist ein realistisches China-Bild in Wissenschaft und Politik. Wie sieht es da aus?

Im politischen Raum gibt es gut informierte Experten. Da mangelt es oft eher an einem systematischen, gesamtheitlichen Bild, weil es so viele verschiedene Handlungsfelder gibt und das Wissen dadurch fragmentiert ist.

Außerdem wissen die einzelnen EU-Länder nicht genug darüber, welche Beziehungen andere EU-Länder zu China unterhalten. Hier müsste man ganzheitlicher denken, um politisch gut aufgestellt zu sein Richtung China.

In der Wissenschaft verhält es sich ein bisschen ähnlich. Es gibt vielfältige Kontakte zu einer großen Anzahl verschiedener chinesischer Universitäten und Forschungseinrichtungen, aber oft bleibt das auf die jeweiligen Kooperationen fixiert, es fehlt ein Gesamtbild.

Als Sinologin sind Sie immer wieder in China unterwegs. Welche Klischees existieren dort über Europa und Deutschland?

Auch da gibt es jede Menge merkwürdige oder falsche Vorstellungen. Manchmal sind sie übertrieben positiv. Da geht es häufig darum, dass Deutschland eine hochstehende Kultur habe, viele Dichter, Denker, Musik, kulturelle Errungenschaften.

Auch die fortgeschrittene Technologie und hohe Industriestandards werden positiv wahrgenommen. Diese positiven Klischees verblassen aber zunehmend, und weichen einem eher negativen Bild. Da wird dann gerne zum Beispiel die Kriminalität in Deutschland und Europa hervorgehoben. Oder die Dysfunktionalität der Verwaltung sowie Chaos und Handlungsunfähigkeit angeblich aufgrund der vielen verschiedenen Meinungen, die es in einer Demokratie ja nun mal gibt.

Warum sind die Klischees derart ins Negative gekippt?

Aus meiner Sicht gibt es zwei Erklärungen: Einerseits reisen Chinesinnen und Chinesen zunehmend nach Europa und sind enttäuscht, weil die Realität nicht so strahlend ist wie das übertrieben positive Bild, das sie vielleicht vorher hatten. Das erleben wir zum Beispiel auch bei chinesischen Studierenden.

Andererseits hat die Politik in China auch ein Interesse daran, die westlichen Demokratien negativ darzustellen, weil man damit das eigene Herrschaftssystem legitimieren kann.

Gerade bei Studierenden sollte man meinen, dass sie die Demokratie gut finden. Wie erklären Sie sich den negativen Blick der jungen Leute? 

Wenn man gelernt hat, dass eine Demokratie dysfunktional ist, weil sie so viele Meinungen und Einzelinteressen zulässt, dass am Ende keine sinnhafte Sachentscheidung mehr getroffen wird, dann sieht man die Dinge durch diese Brille und bestätigt das eigene Weltbild.

Außerdem bleiben die chinesischen Studierenden über die sozialen Medien oft stark in ihrer eigenen Peergroup gefangen. Sie revidieren dann nicht ihre Vorstellungen, sondern festigen sie sogar, obwohl sie hier sind. Aber man sollte differenzieren. Es gibt auch viele chinesische Studierende, die sehr neugierig, kritisch und interessiert daran sind, was es hier alles zu entdecken gibt.

Junge Menschen in Europa zeigen umgekehrt auch wenig Interesse an China. Nach wie vor studieren nur wenige Sinologie oder gehen für ein Auslandssemester nach China. Worauf führen Sie das zurück?

In Europa ist das Schulmaterial häufig sehr eurozentrisch, das heißt, im schlimmsten Fall findet China im Unterricht kaum statt. Damit kann sich kaum Interesse entwickeln, was sich auch auf die Wahl des Studienfachs auswirkt.

Da können wir an den Universitäten noch so viel für die Sinologie werben. Das wirkt sich letztlich übrigens auch negativ auf den Wirtschaftsbereich aus, denn man braucht eigentlich Fachkräfte, die über China informiert sind und kompetent handeln können.

Was können wir sonst noch gewinnen, wenn wir uns mehr füreinander interessieren?

Grundsätzlich ist es sinnvoll und bereichernd, wenn man über den eigenen Tellerrand hinausschaut und nicht immer nur auf sich selbst fixiert ist. Wir können viel Interessantes voneinander lernen. In China und Europa werden Dinge anders gelöst, anders gedacht, die Beschäftigung damit kann sehr spannend sein.

Und natürlich ist China nicht nur sehr vielfältig, sondern heute auch von großer globaler Relevanz. Sei es wirtschaftlich-politisch, aber auch zum Beispiel in Umwelt- und Klimafragen.

Quelle: SWR | Stand: 25.06.2021, 08:52 Uhr

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