Ein geschenkter Aufstieg
Sommer 1965: Hans-Günter "Atze" Becker, Kapitän der Regionalligamannschaft von Tasmania 1900 Berlin, genießt seinen Urlaub am Strand. Plötzlich kommt ein Freund auf ihn zugelaufen: "Hör mal, Atze, Radio Luxemburg hat gerade durchgegeben: Ihr sollt so bald wie möglich nach Hause kommen!" – "Na, wieso das denn?" fragt Becker verblüfft zurück. Der Freund: "Ihr spielt jetzt in der Bundesliga!"
Was war geschehen? Bereits in der zweiten Saison 1964/65 hatte die Bundesliga ihren ersten Skandal durchlitten. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hatte exakt festgelegt, wie viel Gehalt die Vereine an die Lizenz-Spieler zahlen durften.
Aber die Vereinsführung von Hertha BSC Berlin hatte ihren Profis höhere Handgelder ausgezahlt und dafür sogar die Kassenbücher gefälscht. Die Herthaner argumentierten zwar, das sei doch auch bei anderen Vereinen gängige Praxis. Aber das DFB-Sportgericht zeigte sich unnachsichtig: Hertha BSC Berlin wurde in die Regionalliga strafversetzt.
Nun war guter Rat teuer. Ein anderer Berliner Club musste für die Saison 1965/66 ins Oberhaus. Aber welcher? Staffelmeister Tennis Borussia war bereits in der Aufstiegsrunde gescheitert. Der Tabellenzweite aus Spandau schätzte seine Möglichkeiten korrekt ein und lehnte das DFB-Angebot freundlich, aber bestimmt ab.
Also musste es der Drittplatzierte sein, und der hieß Tasmania 1900. Die Tasmanen sagten zu – und das war ein Fehler, wie sich bald zeigen sollte.
Der Sprung ins Ungewisse
Atze Becker fährt schnellstens nach Berlin zurück. Es gibt viel zu regeln. Bisher ist er voll berufstätig gewesen. Aber mit der 40-Stunden-Woche ist es jetzt vorbei – schließlich muss er ja für die Bundesliga trainieren.
In kluger Voraussicht vereinbart er aber mit seinem Arbeitgeber einen Halbtagsvertrag nur für genau zehn Monate. Er ahnt, dass dem geschenkten Aufstieg ebenso schnell der Abstieg folgen wird.
"Wir hätten dieses Angebot des DFB ablehnen müssen", sagt er später rückblickend. Damals versucht er seine Chefs davon zu überzeugen. Aber das Tasmania-Präsidium bleibt standhaft.
Dabei ist der kleine Verein auf das Abenteuer Bundesliga gar nicht vorbereitet. Es gibt kaum Geld. Immerhin gelingt es Atze Becker, dem umsichtigen Kapitän, für seine Kollegen faire Gehälter auszuhandeln: einen hohen Festbetrag und geringe Siegprämien. Mit vielen Siegen rechnet er also nicht.
Auch Verstärkungen sind nicht drin. Tasmania kann nur einen einzigen Spieler mit großem Namen verpflichten: Der 31-jährige Horst Szymaniak, unter Sepp Herberger Nationalspieler, hat allerdings seinen Fußball-Zenit bereits überschritten, als er aus Italien zurückkommt und für eine Saison hinten aushilft.
Natürlich verfügt Tasmania auch nicht über einen Flutlicht-Trainingsplatz. Die Verlegenheits-Aufsteiger müssen zeitweise mit Schotterplätzen vorlieb nehmen. Der Schotter ist dunkel, die Bälle ebenfalls. In winterlicher Dämmerung können die Tasmania-Spieler daher die Bälle kaum erkennen, der Einfachheit halber lackiert sie der Platzwart weiß.
Auch die Reisekasse ist leer: Zum letzten Auswärtsspiel in Schalke fährt man mit dem Bus nach Gelsenkirchen und nach dem Spiel direkt wieder zurück. Für eine Nacht im Hotel reicht das Geld nicht.
Sie spielten nur einen Sommer
Kein Wunder, dass der kleine Berliner Verein unter diesen Bedingungen nicht konkurrenzfähig ist. Tasmania 1900 Berlin wird vermutlich auf ewig den Negativrekord in der Bundesliga halten. In der Fußballersprache steht der Vereinsname noch heute für absolute Erfolglosigkeit.
Während der gesamten Saison 1965/66 erzielen die leidgeprüften Tasmanen nur 15 Tore, kassieren aber 108 – das ist einsamer Bundesliga-Rekord. Die höchsten Heimniederlagen setzt es gegen den Meidericher SV (0:9), den 1. FC Köln (0:6) und im dichten Schneetreiben gegen den späteren Deutschen Meister 1860 München (0:5).
Die Reaktion der Zuschauer und der Journalisten schwankt zwischen Mitleid und Häme. Und noch einen Rekord hält Tasmania: Nur zu einem einzigen Fußballspiel in der Geschichte der Bundesliga kamen weniger als 1000 Zuschauer, das war Tasmanias Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach, vor gezählten 856 Fans im gähnend leeren Olympiastadion. Die wenigen Aufrechten sahen dann immerhin ein leistungsgerechtes 0:0.
Trotz allem eine schöne Zeit
Als der Hamburger SV in Berlin antritt, liegt Tasmania bereits hoffnungslos abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz. Der HSV gewinnt dann auch standesgemäß 4:0.
Charly Dörfel vom HSV ist das aber offenbar nicht genug. Er will seine Berliner Gegenspieler vorführen, mit allerlei kleinen Tricks, "Hacke-Spitze" und Beinschüssen "nass machen" – hat seine Rechnung aber ohne HSV-Kapitän Uwe Seeler gemacht.
Es spricht für Seelers Sportsgeist, dass er seinen Kollegen hart anherrscht, so etwas gehöre sich nicht. Siegen ja, aber nicht den Gegner lächerlich machen. Von Atze Becker verabschiedet sich Kapitänskollege Seeler nach der Partie mit den Worten: "Danke schön für euer faires Spiel."
Immerhin verbucht Tasmania auch zwei Siege: Gleich das erste Saisonspiel gewinnen die Berliner 2:0 gegen den Karlsruher SC. Der Auftaktsieg nährt trügerische Hoffnungen. Man spricht von einer Riesen-Sensation. Und zum Abschluss der Spielzeit gelingt ein 2:1 gegen Mitabsteiger Borussia Neunkirchen. Dazu kommen immerhin vier Unentschieden. Und viele Niederlagen gingen zumindest knapp aus.
Die Berliner nehmen es sportlich. Sie lassen sich trotz allem den Spaß nicht verderben und fügen sich mit Galgenhumor ins Unvermeidliche. Als Horst Szymaniak von Reportern gefragt wird, wie er es bei all den Niederlagen aushalte, kontert er: "Na glänzend, wir peitschen doch die ganze Bundesliga vor uns her!"
Und für Atze Becker sind die zehn Monate im Fußball-Oberhaus "eine einmalige, eine unvergessliche und trotz allem eine schöne Zeit."
Konkurs und Neubeginn
Der Abstieg 1966 hat dennoch unangenehme Folgen für den kleinen Club. Die finanzielle Belastung lässt sich auch durch Spielerverkäufe kaum ausgleichen. Zwar klopfen die Tasmanen in den Jahren nach 1966 noch dreimal an die Tore der Bundesliga. Aber alle Versuche scheitern. 1973 haben die Berliner 800.000 Mark Schulden abgehäuft und müssen Konkurs anmelden.
Der Nachfolgeverein hört bis 2000 auf den Namen "Tasmania Neukölln" und muss ganz von unten neu anfangen. Von 2000 bis 2011 nennt sich der Verein dann "Tasmania Gropiusstadt". 2011 kehrt der Verein dann wieder zu seinem ursprünglichen Namen zurück. Doch an riskante Abenteuer denkt seit 1966 niemand mehr.
(Erstveröffentlichung 2005. Letzte Aktualisierung 08.09.2021)