Wie entsteht das Geschlecht?
Weibliche und männliche Geschlechtsorgane sehen bei Erwachsenen meist unterschiedlich aus. Dabei entwickeln sie sich aus den gleichen embryonalen Strukturen. Unterschiede entstehen erst nach und nach, im Verlauf der embryonalen Entwicklung und dann bis nach der Pubertät.
Etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche, da ist der Embryo etwa ein Zentimeter groß, entwickeln sich die Geschlechtsorgane. Lange Zeit dachte man, dass alle Embryonen automatisch Mädchen werden, wenn nicht ein bestimmtes Gen des männlichen Y-Chromosoms aktiv wird und das verhindert. Heute weiß man, dass es auch mehrere Gene auf X-Chromosomen gibt, die ihrerseits die Entwicklung von Hoden aktiv verhindern.
Die Aktivierung der geschlechtsbestimmenden Gene und die darauf folgende Wirkung der Geschlechtshormone ist ein sehr empfindlicher Balanceakt, bei dem es immer wieder passieren kann, dass eben kein eindeutig weibliches oder männliches Kind heranwächst.
Keine einfache "Diagnose"
Nicht jede Art der Intersexualität kann man "von außen" erkennen Oft sieht die Scheide oder der Penis aus wie erwartet – und erst nach einigen Jahren, manchmal erst wenn die betroffenen Menschen selber Kinder haben möchten, wird klar: Hier ist das Geschlecht ein anderes als es genital scheint.
Es gibt viele unterschiedliche Formen von Intersexualität – hier einige Beispiele:
- Manchmal ist der Geschlechts-Chromosomensatz weder XY noch XX – sondern X oder YXX (Turner- beziehungsweise Klinefelder"syndrom").
- Oder es reagieren die Rezeptoren der Zellen nicht auf das Geschlechtshormon Testosteron. Dann wächst ein Mensch mit männlichem XY-Chromosomensatz als "Frau" heran. Der Grund: Die Zellen "erfahren" nichts von dem männlichen Geschlechtshormon Testosteron (Androgenresistenz-Syndrom).
- Manchmal sind die Geschlechtsorgane nicht eindeutig ausgebildet und entwickelt.
In den meisten Fällen besteht kein zwingender medizinischer Grund, diese Menschen zu behandeln. Betroffenenverbände mahnen vor allem bei möglichen korrigierenden beziehungsweise geschlechtsangleichenden Operationen zu großer Zurückhaltung.
Intersexualität ist keine Krankheit
Aber egal welche Form der Intersexualität vorliegt: Menschen mit weder eindeutig weiblichem noch eindeutig männlichem Geschlecht möchten nicht, dass andere sie als "krank" wahrnehmen.
Bis heute wird der Begriff "Störung" offiziell benutzt (Disorders of sexuel development). Intersexuelle selber sprechen meist von "biologischen Besonderheiten" und betonen, dass sie in erster Linie Menschen sind. Die meisten sind ja nicht per se behandlungsbedürftig.
Die Hoffnungen sind groß, dass die offizielle Einführung einer weiteren Geschlechtszugehörigkeit – neben weiblich und männlich – für mehr Akzeptanz in der Gesellschaft sorgen wird.
Vielleicht lohnt sich ein kleines Gedankenexperiment: Was wäre, wenn das Geschlecht in unserem Alltag keine Rolle mehr spielen würde? Nicht mehr Jungs, Mädchen, Männer und Frauen – sondern frei nach der Kölner Band Brings: "Mir sin all nur Minsche".
Die Natur kennt mehr als zwei Geschlechter
Sau und Eber, Stute und Hengst, Katze und Kater, Frau und Mann: So auf den ersten Blick eindeutig wie in der Welt der Säugetiere geht es im Tierreich nicht immer zu.
- Es gibt Tiere wie die Blumentopfschlangen: Da können die Weibchen Kinder bekommen auch ohne Männchen – das nennt man Jungfernzeugung.
- Oder Clownfische: Da kann ein Männchen zum Weibchen werden, wenn das Weibchen der Gruppe gestorben ist.
- Bei den Wimpertierchen sind sieben Geschlechter möglich. Diese Einzeller haben unvollständige Genpaare, die bei der Fortpflanzung zerteilt und zufällig zusammengesetzt werden... babylonische 21 Möglichkeiten der Verpartnerung…
Diese Vielfalt macht deutlich: Die beiden Geschlechter bei den Säugetieren sind nur eine Variante eines großen nahezu unendlichen Spektrums an Möglichkeiten, wie Tiere sich vermehren können. Und auch die Grenzen zwischen den Geschlechtern sind fließend.
Welches Geschlecht hat das Gehirn?
Wie fließend die Übergänge zwischen weiblich und männlich sind, kann man vor allem im Gehirn beobachten. Denn es ist nicht möglich – für keinen Experten der Welt – einem Gehirn anzusehen, welches Geschlecht sein Besitzer hat.
Zwar sind die meisten Männergehirne größer als die von Frauen. Aber große Frauen haben größere Gehirne als kleine Männer. Das Kriterium Größe taugt also nicht als Unterscheidungsmerkmal. In vielen kleineren Bereichen des Gehirns gibt es Unterschiede in Größe und Form – auch geschlechtsspezifische. Aber auch da überwiegen die Überschneidungen. Also auch hier gibt es Frauen mit "männertypischen" Gehirnarealen und andersherum.
Ein Beispiel: Die Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften, der Balken, ist bei den meisten Frauen dicker und stärker ausgeprägt. Aber auch hier gibt es Frauen mit einem sehr schlanken Balken mit weniger verbindenden Nervenbahnen.
Geschlechtshormone beeinflussen das Gehirn
Besonders interessant: Es gibt erste Studien, die belegen, dass bei Frauen die Form und die Fähigkeit ihres Gehirns im Laufe des Zyklus variieren. So gibt es erste Hinweise, dass Frauen während sie ihre Tage haben, eher "denken wie Männer".
Der Grund: Die Konzentration der Geschlechtshormone schwankt im Laufe des Zyklus'. Und die Geschlechtshormone beeinflussen unser Gehirn stark. In der Zyklusmitte sorgen die Hormone nicht nur für den Eisprung, sondern auch dafür, dass das Gehirn stärker unter dem Einfluss von Östrogen arbeitet als während der Menstruation, wenn verhältnismäßig mehr Testosteron im Blut und damit im Gehirn ist.
Unser Gehirn ist kein starres Organ, sondern sehr flexibel; es wird geprägt durch Gene, Hormone und Umwelteinflüsse – und auch durch das Geschlecht. Auch durch ein drittes: Die Erforschung von Gehirnfunktionen bei intersexuellen oder transsexuellen Menschen steht erst am Anfang. Aber die Zuordnung eines Gehirns zu einem Geschlecht – egal welchem – wird ohne Gentest vielleicht nie möglich sein.
(Erstveröffentlichung: 2018. Letzte Aktualisierung: 14.01.2020)