Psychotherapie
Psychische Erkrankungen nehmen zu
Ängste, Zwänge, Depressionen: Mehr als 44 Milliarden Euro pro Jahr werden für die Behandlung psychischer Erkrankungen ausgegeben. Keine andere Krankheit verursacht so viele Erwerbsminderungsrenten. Der volkswirtschaftliche Schaden geht in die Milliarden.
Von Lothar Nickels
Angststörungen am häufigsten
Mehr als jeder vierte Erwachsene in Deutschland hat mit psychischen Problemen zu tun. Genauer gesagt, erfüllt mehr als jeder vierte Erwachsene in Deutschland jährlich die Kriterien einer voll ausgeprägten psychischen Erkrankung. Das sind ungefähr 18 Millionen Menschen, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde.
Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen
Mit etwa 15 Prozent leiden die meisten von ihnen unter Angststörungen, wie zum Beispiel Panikstörungen oder Platzangst. Gut zehn Prozent haben mit affektiven Störungen zu kämpfen. Dabei ist die Stimmung der Betroffenen krankhaft verändert. Ist sie beispielsweise extrem euphorisch, spricht man von einer Manie. Das Gegenteil ist die Depression, die sich in einer stark niedergedrückten Stimmung zeigt.
Diese Zahlen spiegeln sich auch in der Arbeitswelt wider. Psychische Störungen waren 2017 der Grund für 16 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage. Durchschnittlich blieben Arbeitnehmer 35 Tage krankgeschrieben.
Einer Langzeituntersuchung der DAK-Gesundheit zufolge konnte 1997 jeder Versicherte wegen einer psychischen Erkrankung durchschnittlich 0,7 Tage lang nicht zur Arbeit gehen. 20 Jahre später (2017) hatte sich die Dauer der Ausfallzeiten auf 2,5 Tage im Durchschnitt pro Versichertem erhöht. 2018 war diese Zahl zum ersten Mal wieder leicht rückläufig.
Im bundesweiten Vergleich verzeichnet Bayern im Jahr 2018 mit 1,9 Fehltagen die wenigsten wegen psychischer Erkrankungen. Das Saarland liegt mit 3,1 Fehltagen pro Versichertem an der Spitze.
Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage ist in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen
Psychische Erkrankungen kein Tabu mehr
Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung machen psychische Leiden mit 43 Prozent mittlerweile auch den größten Teil der Frühverrentungen aus. Dieser Wert ist seit Anfang der 1990er-Jahre fast um das Doppelte angestiegen. Frauen scheiden dabei häufiger als Männer vorzeitig aus dem Arbeitsleben aus.
Die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen lassen nach oder sie haben kaum noch Antrieb, die an sie gestellten beruflichen Aufgaben zu erfüllen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde gibt an, dass im Jahr 2008 in der Wirtschaft schätzungsweise 70 Milliarden Euro an Kosten durch psychische Erkrankungen entstanden sind. Neuere Erhebungen sind derzeit nicht verfügbar.
Der deutliche Anstieg von Fehltagen und Frühverrentungen aufgrund psychischer Ursachen legt die Vermutung nahe, dass heutzutage mehr Menschen denn je an der Seele erkranken. Allerdings sind diese Statistiken kein Beweis dafür, dass die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung im Vergleich zu früheren Zeiten zugenommen hat.
Die Bundesvorsitzende der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV), Barbara Lubisch, gibt zu bedenken: "Es ist die Frage, ob die Erkrankungen ansteigen oder ob Menschen mit psychischen Beschwerden heute häufiger zum Arzt oder Psychotherapeuten gehen. Sicher tragen Entstigmatisierung und bessere Diagnostik psychischer Erkrankungen dazu bei, dass der Behandlungsbedarf angestiegen ist.“
Der Erfolgsdruck im Beruf kann Menschen psychisch krank machen
Veränderte Risikofaktoren
Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Lebensumstände der Menschen in Deutschland stetig zum Besseren gewandelt. Manche Veränderungen könnten dafür sprechen, dass die Gefahr gesunken sei, an psychischen Störungen zu erkranken.
So muss heute – abgesehen von Berufssoldaten in Krisengebieten – der größte Teil der Bevölkerung nicht mehr unter den traumatisierenden Folgen von Krieg leiden. Dazu gehören beispielsweise schwere Verletzungen, der frühe Verlust engster Familienangehöriger und Freunde oder die Zerstörung des eigenen Zuhauses.
Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass Kinder mittlerweile in der Regel nicht mehr einem autoritären Erziehungsstil mit körperlicher Züchtigung ausgesetzt sind. Die Armut in Deutschland ist zurückgegangen und die Bildung hat zugenommen.
Dieser Positiventwicklung stehen allerdings auch einige Faktoren gegenüber, die besonders in den vergangenen beiden Jahrzehnten das Risiko psychisch krank zu werden, massiv erhöht haben. Unser Alltag ist insgesamt schneller, rastloser und unruhiger geworden.
Das ist in erster Linie auf die stetig fortschreitende Digitalisierung in allen Lebensbereichen zurückzuführen. Privat und beruflich sollen wir bestenfalls jederzeit verfügbar und erreichbar sein. Der Arbeitsmarkt verlangt immer größere berufliche Mobilität und Flexibilität.
Soziale Netze mit echten zwischenmenschlichen Beziehungen werden so immer wieder zerstört oder können oft gar nicht erst entstehen. An ihre Stelle sind soziale Netzwerke im Internet getreten.
Ein weiteres Merkmal unserer Zeit ist, dass familiäre Strukturen sich verändert haben. Die Großfamilie gibt es so nicht mehr, dafür aber vermehrt Singlehaushalte und berufstätige Väter oder Mütter, die ihre Kinder allein großziehen. Damit kann ein regelmäßiger Wechsel von Bezugspersonen einhergehen, der sich negativ auf ihre emotionale Entwicklung auswirken kann.
Noch immer begeben sich Männer seltener in Psychotherapie als Frauen
Der Druck, erfolgreich sein zu müssen, beschränkt sich nicht mehr allein auf die Erwachsenenwelt. Auch Kindern und Jugendlichen wird immer mehr Leistung abverlangt. Es ist heutzutage keine Seltenheit mehr, dass Kinder lesen und schreiben können, noch bevor sie in die Schule kommen.
Zu den schulischen Anforderungen kommen dann oft noch zahlreiche außerschulische Aktivitäten am Nachmittag dazu, die Eltern ihrem Nachwuchs aufbürden. Somit bleibt kaum mehr Zeit für Ruhephasen und Erholung.
Dieser Umstand wird zusätzlich verstärkt durch den enorm gestiegenen Medienkonsum junger Menschen. Spielekonsole und Fernseher stehen heute in den meisten Kinderzimmern. Das Smartphone ist zum ständigen Begleiter geworden.
Quelle: SWR | Stand: 18.06.2020, 16:00 Uhr