Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt
Der Bundesverfassungsschutz enttarnt Günter Guillaume und seine Frau Christel 1974 als Spione der DDR. Es ist der bis dahin größte Skandal der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte: Ein Agent der Stasi hat es ins Vorzimmer der westdeutschen Macht geschafft. Günter Guillaume ist der persönliche Referent für Parteifragen des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD).
18 Jahre lang hat Guillaume mit seiner Frau unerkannt in der Bundesrepublik gelebt und sich bis in den engen Kreis des Bundeskanzlers hochgearbeitet. Als Guillaume enttarnt wird, zieht Willy Brandt sofort die Konsequenzen und tritt am 6. Mai 1974 als Bundeskanzler zurück:
"Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass geheime Papiere durch die Hände des Agenten gegangen sind. Mein Rücktritt geschah aus Respekt vor ungeschriebenen Regeln der Demokratie und auch, um meine persönliche und politische Integrität nicht zerstören zu lassen."
Für viele Deutsche ist dies ein schwarzer Tag, denn Willy Brandt steht mit seiner Ostpolitik für eine neue Ära des Friedens und der Versöhnung in Europa. Mit keinem Nachkriegspolitiker wird so viel Hoffnung auf Erneuerung verbunden wie mit Willy Brandt.
Die Stasi als Ersatzfamilie
Günter Karl Heinz Guillaume wird 1927 in Berlin geboren und wächst im Arbeiterviertel Prenzlauer Berg auf. Sein Vater ist Mitglied der NSDAP, und auch der Sohn ist in seiner Jugend ein überzeugter Nazi.
Guillaume wird sogar noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, mit gerade mal 17 Jahren, von der Wehrmacht eingezogen. Das Kriegsende erlebt er in Dänemark, kommt in britische Gefangenschaft und kehrt dann auf den Prenzlauer Berg zurück, der nun zum sowjetischen Sektor von Berlin gehört.
Sein Vater nimmt sich nach langer Kriegsgefangenschaft das Leben. Seine Mutter hat eine neue Beziehung, doch Günter versteht sich nicht mit dem neuen Lebenspartner, auch Geschwister hat er nicht.
Das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) in der jungen DDR wird für Guillaume eine Art Ersatzfamilie. Er beginnt langsam, sich mit der Ideologie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zu identifizieren.
Das Ehepaar Guillaume
In den 1950er-Jahren bildet die Stasi den gelernten Fotografen zu einem Spion aus. Sein Deckname wird "Hansen". Hier lernt er auch seine spätere Frau Christel, Deckname "Heinze", kennen.
Sie ist fleißig und zielstrebig. Wie er ist sie ein Einzelkind und wächst ohne Vater auf. Christel Boom ist keine politisch interessierte Person, aber sie macht schnell Karriere in Ost-Berlin und wird von der Schreibkraft zur Hilfsreferentin im Ministerium.
Die Stasi wählt ihre Mitarbeiter mit Bedacht aus, denn die Gefahr, dass ein Agent überläuft, ist groß. Rund 12.0000 "Kundschafter des Friedens" – wie die DDR ihre Spione nennt – sind zwischen 1949 und 1989 für die Stasi in Westdeutschland tätig. Aber die tatsächliche Zahl schrumpft schnell zusammen.
Für das Ehepaar Guillaume spricht seine soziale Herkunft aus der Arbeiterklasse sowie das Fehlen jeglicher Westverwandtschaft – das mindert die Sorge der Stasi, dass die Agenten ihre Familie über den Auftrag stellen und den Kontakt in die DDR abbrechen.
Außerdem sind Günter Guillaumes umgängliche und vertrauensvolle Art sowie sein selbstbewusstes Auftreten hilfreich, um geheimdienstrelevante Kontakte knüpfen zu können.
Christel Guillaume und die SPD-Karriere
Das Ehepaar Guillaume strengt sich an, im Westen eine weitgehend unbeobachtete Existenz zu führen. 1956 kommen Günter und Christel Guillaume, als Flüchtlinge getarnt, nach Frankfurt am Main.
Ihr Auftrag: Die Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi sollen Informationen über die Parteiarbeit der Sozialdemokratischen Partei (SPD) in Deutschland beschaffen. In Hessen bauen sich beide ein neues Leben auf und betreiben zunächst einen Kaffee- und Tabakladen. 1957 treten sie in die SPD ein.
Es ist Christel Guillaume, die erst einmal Karriere in der Partei macht: Sie wird Sekretärin in der hessischen Staatskanzlei. Ihr Chef ist Willy Birkelbach, Mitglied des Bundestages und zudem Vorsitzender der Sozialistischen Fraktion im Europa-Parlament.
Hier hat Christel Guillaume Zugang zu geheimen Nato-Papieren. Sie wird zu einer wichtigen Quelle für die Stasi, doch die traut ihr als Frau nichts zu. Schließlich hilft sie ihrem Mann, in der SPD Fuß zu fassen.
Aufstieg per Zufall
1963 wird Günter Guillaume Sekretär des SPD-Unterbezirks Frankfurt am Main und 1968 Stadtverordneter. Keine drei Jahre später ist er in Bonn an der Seite des Bundeskanzlers. Er verehrt Willy Brandt, trägt sogar seine Aktentasche. Später wird ihm nachgesagt, er sei nach 18 Jahren in der SPD tief im Inneren kein Sozialist mehr gewesen, sondern ein Sozialdemokrat.
Bei der Stasi rechnet keiner damit, dass das Ehepaar Guillaume eine nennenswerte Parteikarriere machen wird – geschweige denn, dass es Günter Guillaume mal an die Seite von Willy Brandt schaffen wird. Es ist mehr oder weniger Zufall.
"Einiges geschah damals ohne mein Zutun. Für die weitere Karriere im Bundeskanzleramt reichte es, mich als Mann des Volkes immer wieder in Erinnerung zu bringen, als Praktiker, der es verstand, den einfachen Leuten aufs Maul zu schauen", schreibt Guillaume 1988 in seinen von der Stasi publizierten Erinnerungen.
Verrat durch DDR-Funkspruch
Im Mai 1973 entdeckt der Verfassungsschutz den ersten Hinweis, die Guillaumes könnten Spione der DDR sein. So lautet ein verschlüsselter Funkspruch aus Ost-Berlin zur Geburt des Sohnes Pierre Guillaume "Glückwunsch zum zweiten Mann".
Trotz eines ersten Verdachts bittet der Chef des Verfassungsschutzes den Kanzler, Guillaume im Amt zu lassen. Dem ist sein Referent lästig geworden. Er spielt eigentlich mit dem Gedanken, ihn versetzen zu lassen.
Doch nun werden die Karten neu gemischt. Brandt fährt wie geplant mit dem vermuteten Ost-Spion in seinen Sommerurlaub nach Norwegen.
Hier laufen mehrere Geheimdokumente zwischen Brandt und US-Präsident Nixon durch Guillaumes Hände. Die Verfassungsschützer wollen den Spion auf frischer Tat erwischen.
Doch Beweise, dass die Dokumente nach Ost-Berlin gehen, können die Beamten nach der Norwegen-Reise nicht vorweisen. Trotzdem wird das Ehepaar kurz nach seiner Rückkehr in Bonn festgenommen.
Spekulationen zu Brandts Rücktritt
Nach der Enttarnung im April 1974 werden Günter Guillaume zu 13 Jahren und seine Frau zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, die sie aber beide aufgrund eines Agentenaustausches zwischen DDR und BRD im Jahr 1981 nicht vollständig verbüßen müssen.
Die Guillaumes lassen sich 1981 scheiden, weil Günter eine Affäre mit der Krankenschwester Elke Bröhl beginnt. 1986 heiraten die beiden und Günter Guillaume nimmt den Nachnamen Bröhl an. Günter Bröhl stirbt 1995, Christel Guillaume 2004.
Es gibt viele Spekulationen über die Guillaume-Affäre und den Rücktritt Willy Brandts. Da ist zum einen der Fraktionschef der SPD, Herbert Wehner, der Brandt zu dieser Zeit nicht die gewünschte Rückendeckung gibt. Wehner kritisiert den Kanzler und seine Ostpolitik.
Willy Brandt selbst ist angeschlagen, leidet unter Depressionen. Ihm wird nachgesagt, er habe keine Kraft mehr weiterzumachen. Und das Bundeskriminalamt findet heraus, dass sich der Kanzler auf Reisen von seinem Parteireferenten Günter Guillaume Frauen "zuführen" lässt. Es gibt daher Befürchtungen, Brandt und damit die Bundesregierung seien mit diesen Informationen von der DDR erpressbar.
(Erstveröffentlichung 2013. Letzte Aktualisierung 30.03.2020)