Notstandsgesetze verabschiedet (am 30.05.1968) WDR ZeitZeichen 30.05.2018 13:27 Min. Verfügbar bis 27.05.2028 WDR 5

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Studentenbewegung

Notstandsgesetze

1968 beschloss der Deutschen Bundestag eine Verfassungsänderung, um in Krisenzeiten schnell handeln zu können. Das führte zu heftigen Diskussionen, sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit – und besonders innerhalb der Studentenbewegung.

Von Natalie Muntermann

Ein erster Entwurf scheitert

Die Diskussion um die Notstandgesetze begann bereits 1958. Der damalige Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) bezeichnete den Notstand als "die Zeit der Exekutive". Erinnerungen an das totalitäre Nazi-Regime und das damalige Ermächtigungsgesetz wurden wach und lösten bei vielen Menschen großen Widerstand gegen die Notstandsgesetze aus.

Der erste Entwurf und auch die weiteren von 1960 sowie 1963, die die Rechte der Regierung sehr stark ausweiten sollten, fanden daher nicht die notwendige Mehrheit im Parlament.

Konkret sollten die Notstandsgesetze im Verteidigungsfall, bei inneren Unruhen und Naturkatastrophen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes ausweiten. Außerdem sahen die Entwürfe vor, bei Unruhen die Einschränkung bestimmter Grundrechte zu erlauben, beispielsweise des Postgeheimnisses sowie den Einsatz von Bundeswehr und Bundesgrenzschutz. Männer können kurzfristig zum Militärdienst eingezogen und Frauen zum Sanitätsdienst verpflichtet werden.

Trotz breiter Proteste traten die Notstandsgesetze in Kraft | Bildquelle: WDR/Karl H. Walloch

Eine Notstandsverfassung für mehr Eigenständigkeit?

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Westmächte Sonderrechte zum Schutz ihrer in Deutschland stationierten Truppen vorbehalten. Um von den verbündeten Siegermächten unabhängiger zu werden und der vollen Eigenständigkeit (Souveränität) einen Schritt näher zu kommen, musste die Bundesrepublik den Notfall gesetzlich regeln.

So sollte die Notstandsverfassung Gesetze für jede Art von Notsituation bereithalten. Diese sollten ins Grundgesetz eingebaut werden. Über das "Wie" wurde zehn Jahre lang debattiert. Gegen Ende der 1960er-Jahre war der Weg dann frei: Durch die Bildung der Großen Koalition rückte die nötige Zweidrittel-Mehrheit in greifbare Nähe.

Große Koalition als Ausweg aus der Krise

Im Dezember 1966 wählte der Bundestag den damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Kurt Georg Kiesinger (CDU), zum Bundeskanzler. Er stellte noch am selben Tag sein Kabinett, eine Koalition aus den beiden größten deutschen Parteien "Christlich Demokratische Union Deutschlands"/"Christlich Soziale Union" (CDU/CSU) und "Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (SPD), vor.

Das Kabinett Kiesinger | Bildquelle: WDR / picture-alliance / dpa

Der Koalitionswechsel innerhalb der vierjährigen Amtsdauer der Bundesregierung (Legislaturperiode) und die Bildung der Großen Koalition war zur Überwindung der wirtschaftlichen und finanzpolitischen Krise gedacht.

"Lasst das Grundgesetz in Ruh!"

In den 1960er-Jahren gipfelten die Aktivitäten der Bürgerbewegung im Kampf gegen die Notstandsgesetze. Der Verabschiedung der Gesetze gingen massive Proteste voraus. Vor allem die Gewerkschaften, Studenten und das Kuratorium "Notstand der Demokratie" befürchteten, dass der Staat durch die Notstandsgesetze diktatorische Züge erhalte.

Die politisch denkende Jugend sah die Verfassung und Gesetze nicht mehr als Instrumente zum Schutz der Bürger, sondern als Machtmittel einer bürgerfernen und autoritären Staatsgewalt. Als dann 1967 auch noch der Student Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen wurde, schien sich diese Auffassung zu bestätigen.

Sternmarsch auf Bonn, 11. Mai 1968 | Bildquelle: WDR / dpa

Die so genannte "Außerparlamentarische Opposition" (APO), die aus Bürgerinitiativen entstanden war, rief zu Protesten und Massenkundgebungen auf – dabei fanden auch Sprechchöre statt wie: "SPD und CDU: Lasst das Grundgesetz in Ruh!"

Beim "Sternmarsch auf Bonn" im Mai 1968 im Bonner Hofgarten bezogen auch so prominente Gegner wie Heinrich Böll gegen die Notstandsverfassung Position. Laut Polizeischätzungen nahmen etwa 22.000, nach Angaben der Veranstalter bis zu 60.000 Menschen teil.

Doch der Protest half nichts: Am 30. Mai 1968 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit einer Zweidrittel-Mehrheit die Notstandsgesetze.

Das Ende der APO

Die Einführung der Notstandsgesetze leitete den Zerfall der "Außerparlamentarischen Opposition" (APO) ein. Denn einer der wesentlichen Kristallisationspunkte der APO war, neben den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und atomare Aufrüstung, der Kampf gegen die Verabschiedung dieser Gesetze.

Die APO zersplitterte in eine Vielzahl verschiedener Gruppen, einige ihrer Anhänger gingen zur SPD zurück, manche schlossen sich maoistischen Gruppen an, andere gründeten terroristische Vereinigungen.

Die Notstandsgesetze sind immer noch in Kraft. Heute, mehr als 40 Jahre nach ihrer Verabschiedung, betrachten die meisten Menschen sie nüchterner und bringen sie nicht mehr mit einer Unterwanderung der Demokratie in Verbindung. Die Notstandsregelung in der Bundesrepublik ist eine der ausführlichsten in Europa.

(Erstveröffentlichung 2002. Letzte Aktualisierung 08.05.2020)