Die Vorgeschichte: Kaiserreich und Weimarer Republik
Weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik war der Kanzler vom Parlament – das damals Reichstag hieß – gewählt worden. Stattdessen wurde er immer von oben ernannt: bis 1918 vom Kaiser, der ihn auch wieder entlassen konnte, in der Weimarer Zeit (1918-1933) dann vom Reichspräsidenten.
Auch Hitler war auf diese Weise an die Macht gekommen: Nach mehreren Wahlerfolgen vom altersschwachen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt, führte er schließlich 1934 nach Hindenburgs Tod die Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten im Amt des "Führers" zusammen.
Von nun an wollte Hitler "für alle Zukunft", so der Text des Erlasses, mit "Führer und Reichskanzler" angesprochen werden, ab 1939 nur noch mit "Führer".
Ein verfassungsgeschichtliches Novum
1948/49 dann der Neubeginn: Die Bundesrepublik Deutschland war nun eine Demokratie. Der Parlamentarische Rat, die verfassungsgebende Versammlung der deutschen Länder, brachte in seinem Grundgesetzentwurf den Kanzler wieder zurück auf die politische Bühne und wertete das Amt gleichzeitig deutlich auf.
Die genaue Verfassungslage
- Der Kanzler ist nicht mehr vom Präsidenten, sondern nur noch vom Bundestag abhängig (GGArt. 63). Zwar schlägt der Präsident dem Bundestag den Kanzler vor, doch hat das eher die Bedeutung einer rein formellen Amtshandlung.
- Der Kanzler hat das Vorschlagsrecht für die Bundesminister (GGArt. 64, Abs. 1). In der Verfassungswirklichkeit ist er dabei allerdings stark von der Personalpolitik der Regierungsparteien und deren Proporz- und Strategieerwägungen abhängig.
- Für den Präsidenten, in der Weimarer Verfassung der mächtigste Gegenspieler des Kanzlers, gleichsam ein "Ersatzkaiser", sieht das Grundgesetz fast nur noch repräsentative Aufgaben vor. Außer in politischen Krisensituationen, etwa wenn sich der Bundestag nicht auf einen Kanzler einigen kann (GGArt. 63, Abs. 4), hat er kaum politische Entscheidungsmacht.
- Nicht zuletzt dämmt das Grundgesetz auch die Verfügungsgewalt des Parlaments über den Kanzler ein: Es kann ihn nur dann seines Amtes entheben, wenn mit einem so genannten "konstruktiven Misstrauensvotum" gleichzeitig ein neuer Kanzler gewählt wird (GGArt. 67). Auch dieser Grundgesetzartikel sollte "Weimarer Verhältnisse" verhindern helfen: Damals konnte der Reichstag den Kanzler durch ständige Abwahldrohungen bedeutend schwächen. In der Geschichte der Bundesrepublik gab es bisher nur zwei konstruktive Misstrauensvoten – ein geglücktes 1982, mit dem Helmut Kohl den damaligen Kanzler Helmut Schmidt (SPD) ablöste, sowie ein gescheitertes 1972, mit dem der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel Kanzler Willy Brandt (SPD) stürzen wollte.
Insgesamt hat der Bundeskanzler damit eine deutlich stärkere Stellung als die Reichskanzler der Weimarer Republik, die sich zwischen Reichstag und Reichspräsident oft regelrecht zerreiben lassen mussten. In der kurzen Zeitspanne zwischen 1919 und 1933 regierten denn auch zwölf Kanzler – manche nur wenige Monate lang.
Wie mächtig ist der Kanzler wirklich?
Das in Kanzlerfragen am häufigsten genannte Stichwort aus dem Grundgesetz ist die Richtlinienkompetenz. In GG Art. 65 heißt es: "Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung."
Das mag große Machtfülle suggerieren, ist aber tatsächlich einer der schwammigsten Begriffe, die im Grundgesetz zu finden sind – denn Möglichkeiten, diese Richtlinienkompetenz auch einzufordern, gibt das Grundgesetz dem Kanzler nicht an die Hand.
Dementsprechend kommt es stark auf die jeweilige Machtkonstellation in der Regierung, im Bundestag und auch bei den Ländervertretern im Bundesrat an, ob sich ein Kanzler tatsächlich durchsetzen kann.
In Großen Koalitionen wie der von 1966 bis 1969 unter Kurt Georg Kiesinger oder von 2005 bis 2009 sowie von 2013 bis 2021 unter Angela Merkel ist der Kanzlereinfluss naturgemäß geringer, da sich mit SPD und CDU zwei annähernd gleich große Koalitionspartner mit entsprechendem Gestaltungsanspruch gegenüberstehen.
So stammt aus der Zeit der ersten Großen Koalition die Charakterisierung Kiesingers als "wandelnder Vermittlungsausschuss" – nicht Machtworte, sondern moderatives Geschick und die Fähigkeit zum Ausgleich waren hier gefragt.
Zudem muss ein Kanzler sicherstellen, dass er auch in der eigenen Fraktion und Partei genügend Unterstützung findet: Verweigern ihm Abgeordnete aus den eigenen Reihen die Gefolgschaft, kann seine Regierung ihre Gesetzesentwürfe nicht mehr durch den Bundestag bringen.
So war denn auch die Sorge um den Rückhalt in der SPD-Fraktion der offizielle Grund, warum Kanzler Gerhard Schröder 2005 im Bundestag die Vertrauensfrage stellte und auf diese Weise schließlich Neuwahlen herbeiführte.
Allerdings blieb dem Kanzler selbst in schwierigen Situationen lange Zeit zumeist ein Politikfeld, auf dem er relativ unbeeinflusst punkten konnte: die Außenpolitik.
Hier hatte das Parlament in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik nur begrenztes Mitspracherecht. Heute darf der Bundestag aber zum Beispiel bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr oder bei Europafragen mitentscheiden.
Als besonders starke Kanzler gelten deshalb in der Rückschau vor allem jene Amtsinhaber, deren Namen untrennbar mit einem außenpolitischen Großprojekt verbunden sind: bei Konrad Adenauer die Westbindung, bei Willy Brandt die Ostpolitik, bei Helmut Kohl schließlich die deutsche Einheit und die europäische Integration.
Der starke Kanzler – eine Erfindung des Fernsehens?
Eine Entwicklung, die der Parlamentarische Rat bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes noch nicht vorhersehen konnte, ist heute fast zum wichtigsten Faktor der Kanzlermacht geworden: der wachsende Einfluss der Medien.
Konnte sich Kanzler Adenauer am Wahlabend noch in aller Ruhe schlafen legen, um am nächsten Morgen beim Aufstehen von seinem Referenten die Ergebnisse in Empfang zu nehmen, so muss der neue Typus Medienkanzler schnell reagieren und auf allen Kanälen präsent sein.
Im Vorfeld einer Wahl in Rededuellen, am Wahlabend in der so genannten Elefantenrunde und auch zwischen den einzelnen Wahlen als ständiger Kommentator und Erklärer seiner selbst – Dauerkommunikation mit dem Wahlvolk also, auch wenn gerade gar keine Wahl ins Haus steht.
Das muss nichts Schlechtes sein: Schließlich erweist ein Kanzler den Wählern Wertschätzung und Respekt, wenn er öffentlich um Unterstützung wirbt. Allerdings leistet die umfangreiche Medienpräsenz der Kanzler einer Personalisierung von Politik Vorschub, die an der politischen Wirklichkeit immer mehr vorbeigeht.
Viele Kanzler, eine Kanzlerin
Auch auf einem anderen Gebiet hat sich das Grundgesetz als wenig prophetisch erwiesen: In all seinen 146 Artikeln ist kein einziges Mal von einer Kanzlerin die Rede.
Mit Angela Merkels Amtsantritt im November 2005 holte die Wirklichkeit die Verfassung in diesem Punkt ein. Die offizielle Anrede für Frauen im Amt heißt, Grundgesetz hin oder her, nicht "Frau Bundeskanzler", sondern, ganz manierlich, "Frau Bundeskanzlerin".
(Erstveröffentlichung 2006. Letzte Aktualisierung 10.01.2022)